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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 134/135
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [10]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0203

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Charakter in den Zügen der Kinder zu erkennen,
Ünd was bemerkte er nach näherem Zusehen!
Bei den meisten Mädchen eine dumpfe, dumme, re-
signierte Apathie; sie standen da wie Tiere, ja wie
gutgefütterte, aber kraftlose Kühe. Bei den Knaben
eine in ihren grauen Zügen tief unter der Maske
des Gehorsams versteckte und verkniffene Ver-
schlagenheit; und diese Gesichter waren noch die
tröstlichsten, menschlichsten; denn auch die grö-
ßere Anzahl der Knaben schien jener uniformen,
stumpfen Ergebung heimgefallen zu sein. Und
Baron Frangart' dachte flüchtig an alles, was ihm
der gute Schlagintweit, der vielleicht einmal Er-
zieher werden wollte, über die Schulen, die er,
Baron Frangart, nicht kannte, geklagt hatte. Er
stellte sich die für das kindliche Alter so wider-
natürliche, ja perverse Zwangsordnimg vor, unter
der diese hier dahinlebten; das grausame, zu Eis
erstarrte Tages-, ja Minutenprogramm, das sie
immerzu und immerzu üben mußten; die heiße
Sehnsucht, womit sie in den Schulstunden auf die
Glocke, die eine Freistunde, nein, nur eine Viertel-
stunde anzeigte, warten mochten; die Brutalität
der Schule, die ihnen auch in diesen Viertelstun-
den untersagte, sich zu raufen, zu kratzen, zu bal-
gen, zu lärmen und zu schreien, wie es ihnen
wohlgetan hätte, wie es ihrer Natur gemäß war
— weil sich dies für einen „gebildeten Menschen“
nicht schicke: wie sie dann gleich darauf wieder
(was auch Baron Frangart, diesem zurückhalten-
den strengen, stahlharten Menschen, als eine raffi-
nierte und perfide Quälerei erschien) gerade in
den untersten Schulklassen die Hände auf die
Bank legen mußten und sie nicht rühren durften,
ohne der Strafe zu verfallen . . . Und wozu,
flogen die Gedanken Frangarts weiter, wozu
wurde alles rein Menschliche, das warme Blut, die
Neigungen, der ganze kindliche Charakter an die-
sen Kindern ertötet? Um ihren Kopf desto ge<
fügiger zu machen für die Masse der bürgerlichen
Kenntnisse, die in ihn eingehen sollten . . . „Sehen
Sie, Baron, aus dem Grunde sind Sie uns alle über,
weil Sie so wenig gelernt haben, deshalb sind Sie
ein Mann geblieben, weil man Sie nicht gezwun-
gen hat, sich etwas aufladen zu lassen, was nicht
zu Ihnen selbst paßt,“ hatte ihm Schlagintweit
einmal gesagt ... Ja, das war richtig . . .
Und mit einem Male übersah Baron Frangart
die entsetzlichen Schäden, welche die bourgeoise
„Bildungssucht“ seit einem vollen Jahrhundert,
seit der eingeführten „allgemeinen Volksbildung“
über die ganze europäische Menschheit gebracht
hatte. Was war das Prinzip dieser „allgemeinen
Volksbildung“ und sogar aller höheren Bildung,
nach der die demokratische Bourgeoisie strebte
und ihr auch diese Kinder, in der arroganten
Ueberzeugung, ihnen „Wohltäter“ zu sein, zu-
führte? Es war wirklich nur dies: die ganze
Menschheit in einen Kopf zu verwandeln!
Kenntnisse und Wissen, nichts als Wissen und
Kenntnisse verlangte man . . . Wer fragte noch
nach menschlichen Tugenden? Gute Köpfe
wollte man, nichts weiter . . .
. . . Das also war, was die demokratische
Bourgeoisie aus dem Geist der Aufklärung gemacht
hatte: „Je mehr Kenntnisse du erwirbst, desto
höher steigst du.“ Ob du dich aber, als Mensch,
zum Führer eignest, der du werden willst und
sollst, darnach fragt man dich in keinem Exa-
men . . . Und den Menschen, die gehorchen, die
Gesetze erfüllen sollten, was gab man ihnen als
Grund an: „Du weißt so wenig, du hast eine
so schlechte Handschrift, du kennst nicht einmal
die Nebenflüsse des Rio de Janeiro in Neu Fund-
land ... Also: gehorche!“
... . Wenn das Cäsar seinen Soldaten als

Grund angegeben hätte, weswegen er ihren Ge-
horsam verlangte . . .
Und mit dem sicheren Blick eines Menschen
der alten Art fand Baron Frangart heraus, worum
es sich handelte: Es war der blasse Intellektualis-
mus, die graue blutleere Verstandeswirtschaft, die
alles dirigierte: die alle rein menschlichen Unter-
schiede aufhob und die Menschen nach ihren
Kenntnissen einteilte, die auch an den Kindern hier
ihre Erbärmlichkeiten ausließ.
Und immer wieder betrachtete Baron Fran-
gart diese grauen farblosen Menschen, die ihm in
der Tat als typische Opfer des Molochs der
Schule erscheinen mußten, der seit hundert Jah-
ren Europa bedrohte. Von ihnen also wollte er
ein Kind herausgreifen und es seiner Kultur zu-
führen. Das war die Tat, wozu er sich ent-
schlossen hatte, und die zugleich das Werk der
Liebe und des Sich-Wegschenkens sein sollte! Er
wollte fruchtbar werden, indem er seine Tradition,
also gleichsam sich selbst, auf jemand übertrug.
Dies war die Fortpflanzung und Fruchtbarkeit, zu
der er sich gestern entschlossen hatte. Und des-
halb war er zu den Kindern hier gekommen.

Während seiner Geist solchermaßen in einer
kurzen Umarmung seine Ansichten und Absichten
zusammenfaßte, hatte der Anstaltsleiter eine Rede
gehalten, in der er zuerst den Wohltätern dankte
und dann die Kinder zur Dankbarkeit ermahnte.
Hierauf trat, von den Festgästen teilweise mit
„ah!“ begrüßt, durch die ändert Türe der Weih-
nachtsengel ein. Es war dies ein dreizehnjähriges
Mädchen, Zögling der Anstalt, das ein langes,
weißes Wollhemd und am Rücken zwei gold-
gestrichene Holzflügel angeheftet trug. Sie trat
unter den Baum und sprach ein langes Gedicht,
mit pathetischen Hinweisen auf die Wohltäter.
Diese riefen nach Beendigung der Reimerei ein
gerührtes „Bravo!“ und „sehr gut!“ Man gab
jetzt den Kindern ein Zeichen, zu singen. Ihre
Stimmen zogen sich langgedehnt, mit der ihrem
Dialekt eigenen Abfärbung der Vokale, hinaus.
Baron Frangart gab sich nicht die Mühe, den Text
verstehen zu wollen. Als das Lied verklungen
war, wurden die Kinder endlich angewiesen, sich
ihre numerierten Geschenke zu holen. — „Jetzt!“
dachte sich Baron Frangart und beobachtete streng
die Haltung der Kinder. Die einen grinsten gut-
mütig. Die andern taten überrascht und stießen
ein „Oh!“ und „Ah!“ aus, dem Baron Frangart
die Heuchelei anmerkte. Es mußte Heuchelei
sein; denn welchen persönlichen Anteil konnten
sie nehmen an dem kalten Flitter dieses Baumes,
an seinen elektrischen Lämpchen, die kein Leben
verrieten, sondern stumpfsinnig und gleichmäßig
leuchteten, an den grauen Tüten, in die man genau
eingezählt hatte, wieviel Aepfel, Nüsse, Marzipan,
Biskuits auf je einen entfielen. — Wieder andere
gingen zu ihrer Nummer und nahmen die Ge-
schenke, weil das nun eben so befohlen war.
Der stumme Betrachter fühlte sich schon ent-
täuscht; er sah nochmals auf die Kinder; da
plötzlich fiel ihm etwas auf. Ein etwa zehnjäh-
riger Junge stand mit dem Rücken an den Tisch
und seine Bescherung — Nummer 18 — gelehnt,
schlank, ja mager da, und überflog mit fast un-
verschämt ruhigen Blicken das Publikum. — „Wer
ist der Junge dort?“ fragte Baron Frangart mit
leiser Erregung den Geistlichen und zeigte auf
diesen. „Ohne Eltern wie die andern, nicht un-
talentiert, aber — wie soll ich sagen? . . .“
„Sein Name?“ — „Weiß ich leider nicht.“ —
„Bitte, Hochwürden, wollen Sie dem Anstaltsleiter
sagen, daß ich diesen Jungen möchte, und keinen
andern. Man möge mir Nachricht geben, ob ich

ihn haben kann. Damit es keine Verwechslung
gibt: Den, der mich jetzt anstarrt. Nur den!
Bitte!“ . . .
Die Feier war zu Ende. Die Kinder mußten
sich in Paare ordnen und sie verließen den Saal
durch die Seitentür, durch die sie hereingekommen
waren. Baron Frangart sah seinem Jungen nach,
bis er verschwunden war. Dann verließ er sofort
die Galerie der Eingeladenen, die gerade der An-
staltsleiter zu persönlichen Ansprachen betrat.
Dem Geistlichen hatte er seine Karte gegeben und
ihn um freundliche Nachricht gebeten.
Die Frage, die ein anderer sich in Anbetracht
des Entschlusses und der Tat des Barons Frangart
stellen konnte, war rein menschlich gesprochen
die: warum nahm sich dieser verfeinerte, auf
seine Kultur so stolze Mensch gerade ein Kind aus
dem Findelhause, anstatt, was doch näher zu liegen
schien, aus irgend einer zufällig verarmten guten
Familie, wo er doch hoffen durfte, schon auf einem
vorhandenen gewissen Fonds von Kultur weiter-
bauen zu können. Aber diese Wahl des Baron
Frangart geschah mit ganz bestimmter Absicht
Wenn jene mystische, ja magische Uebertragung
seiner eigenen Art auf ein junges Menschenkind
vollkommen gelingen sollte, mußte dieses selbst
so voraussetzungslos wie möglich sein. Keinerlei
hergebrachte Meinung durfte es belasten, durfte
die Uebertragung hemmen; jene doppelte Arbeit,
zuerst angeborene oder angelernte, jedenfalls aber
vorhandene Werte aus dem Kind auszumerzen, um
ihm dann seine eigenen zu geben, wäre Baron
Frangart zu unreinlich gewesen. Daher und nicht
etwa aus Mitleid, suchte er ein Kind ohne Familie,
ohne Werte, ohne Voraussetzungen; es war ihm
nicht darum zu tun, einem armen Jungen ein rei-
ches Leben zu schenken. Armut und Reichtum
taten im Grunde nichts zur Sache. Nur durfte
Baron Frangart bei einem dieser armen Findlinge
am ehesten hoffen, einen vollkommen unbebauten
moralischen und geistigen Boden vorzufinden.
Was die vererbten, im Blut liegenden Eigen-
schaften betraf, deren wohl jedes Kind mit in die
Welt bringen mußte, so baute er darauf, daß diese
durch die Schule, die Anstalt (deren Ziel doch
war, den persönlichen Charakter der Kinder zu-
gunsten der allgemeinen Gleichförmigkeit zu er-
töten), wohl schon ausgemerzt, mindestens aber,
gleich einem sterbenden Nerv, narkotisiert sein
würden; sie würden schlummern und er würde
sie durch seine Erziehung nicht mehr wecken.
Aus welchen rein menschlichen Grundgefühlen
nun ging bei Baron Frangart dieser Plan einer
geheimnisvollen Uebertragung seiner Persönlich-
keit hervor? Vielleicht aus zweien: Dem einen,
etwas zu tun, fruchtbar zu werden, dem andern,
sich den ihm in Dingen der Kultur gleichgestellten
Menschen, da er einen solchen nicht vorgefunden
hatte, selbst zu erschaffen; Gesellschaft zu haben.
Diese zwei Gefühle hatte er bislang unbefriedigt
gelassen, ja streng beherrscht: alle Tätigkeit und
alle menschliche Gesellschaft hatte er als unreinlich
von sich fern gehalten. Vielleicht war es eine
Schwäche, daß er diesen Gefühlen jetzt nachgab;
aber er war gedrängt worden, von Pater Bona-
venturas guten Wünschen und von den Worten
des Prälaten ebensowohl wie von Schlagintweits
Unternehmungslust; denn diese drei waren die
einzigen Menschen, die eine gewisse Rolle in sei-
nem Leben spielten. So schadete ihm die Güte
und Liebe zweier Menschen, und im Falle Schlag-
intweit die eigene Sympathie, mit der er an des-
sen Leben Anteil nahm’ Aber wenn es schon für
einen Baron Fragart eine Art Schwäche bedeu-
tete, daß er Gesellschaft und Tätigkeit wollte, so
konnte er sich damit verteidigen, daß er bei alle-
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