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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 125/126
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Zech, Paul: Rheinhafen: vier Szenen
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Walden, Herwarth: Bab, der Lyrikfinder
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Burljuk, David Davidovič: Die "Wilden" Rußlands
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0142
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Tanz in der Matrosenschenke
In dem verqualmten Tanzlokal am untern Hafen
quietscht melancholisch eine Ziehharmonika.
Trompete singt dazu ein blechernes Trr-aa-trr=aa
und rings drehn sich die Paare die zum Tanz zu-
sammentrafen.’
Da preßt sich lüstern der Javaner an die kleine
geschminkte Esther aus der Judenkolonie.
Mynheer van Delft k.ßt frech die dänische Marie
und Jack das Negerlein beäugt Luisens Beine.
Die Musikanten spielen einen Walzer mit Gefühl.
Betäubend steigt Geneverduft von hllen Tischen
und schon wirds manchen Tänzerinnen viel zu
schwül.
Sie streifen hastig die koketten Tücher von dem
. Nacken
und zerren die Tänzer in die weinbelaubten Nischen:
Oh tolles Liebesspiel! Oh kühles Goldbepacken!

Bab, der Lyrikfinder
Ich habe zu früh auf den tausendarmigen Dä-
mon Theater gewartet, der den Herrn Julius Bab
verschlingen sollte. Herr Bab befindet sich noch
immer im Theatrum lyricum der Gegenwart. Er
hat sogar jetzt d i e neuen Lyriker gefunden. Der
eine ist Alfons Paquet. Er schrieb einen Band
„der den charakteristischen Titel ,,Auf Erden“
führt“, sagt Bab. Weiterhin sagt Bab, daß Paquet
ein Weltfahrer ist und das Leben aller Erdteile und
Kulturen vor uns hinbreitet. In lyrischen Gedich-
ten; Weiterhin sagt Bab, daß Paquet „von den
riesigen Strömen und den Urwäldern Amerikas
und der donnernden Arbeit der Weltwerkstätten
New York und London erzählt“. In lyrischen Ge-
dichten. Und außerdem;,, nicht damit genug, preist
er im ergriffenen Zug, nicht nach New York und
London, sondern ,»im ergriffenen Zug seiner un-
endlich hinströmendien Rede den schöpferischen
Geist der Erde“, sagt Bab. Den namenlosen Geist,
der aus dem Strudel alles Lebendigen immer neue
Ordnungen gebiert, sagt Bab. Und Paquet dichtet
im ergriffenen hinströmenden Zug so:
Des Glaubens alte Formen haben wir
mit zärtlicher Entsagung hingegeben.
Es sprießen kühn und zart
zu hoher Art
des neuen Glaubens Helden in das Leben
und folgen dir und siegen, tief bereit
ihr Haupt zu beugen der Barmherzigkeit.
Der Zug ist ergriffen, die Rede strömt und die
Helden sprießen. Was bleibt übrig, als das Haupt
der Barmherzigkeit zu beugen. Nachdem Herr Bab
dieses Gedicht abgedruckt hat,,, fällt ihm bei seinem
neuen Lyriker auf, daß er ,„nur die allgemeine Er-
schütterung durch das neue Lebensgefühl aus-
drücke. Wir lernen die ganze Erde kennen,
aber wir werden nirgends auf ihr heimisch“. Der
Herr Bab ist so auf die Lyrik versessen, daß er
auf ihr die ganze Erde kennen lernt, ohne vom
Stuhl aufzustehen. Nur läßt ihm Paquet nicht in
den riesigen Strömen und in den Urwäldern Ame-
rikas heimisch werden. Herr Bab findet Paquet
»»nicht nur stofflich, sondern auch gefühlsmäßig un-
endlich viel reicher, als jene snobistischen Jüng-
linge, die ihre Großstadtnerven gierig belauern“.
Dieser Satz findet das künstlerische Unvermögen
des Herrn Bab. Er fühlt sich durch die Urwälder
Amerikas stofflich bereichert, spart die Reise. Das
Cafe erlebt er für fünfunddreißig Pfennige mit
Trinkgeld allein, ohne ,,snobistische Jünglinge“.
Herr Bab entdeckt in Amerika das neue Lebens-

gefühl. Amerika ist entdeckt. Dieser neueste Co-
lumbus hat nicht das Recht, sein Ei an den Köpfen
der „snobistischen Jünglinge“ zu zerschlagen.
Schade, daß ihre Lyrik nicht so gut ist, wie ihr
Lebensgefühl. Aber mit dem Lebensgefühl, dem
neuen; oder alten, kann in der Kunst nie etwas er-
reicht werden. Der zweite Lyriker des Herrn Bab
ist Wilhelm Schmidt-Bonn. Die Anerkennung Babs
genügt,, zul wissen, daß Schmidt-Bonn kein Lyriker
ist. Schmidt-Bonn redet. Er besitzt sogar ein lei“
ses Gefühl für Rhythmus. Das einzige, was unter
großem Vorbehalt anzuerkennen wäre. Und die-
ses Einzige findet Herr Bab natürlich schlecht. Er
vermißt natürlich ,,den Mangel strophischer und
reimmäßiger Bindung“. Ein Gedicht ist, was sich
reimt. Das mußte uns, uns, endlich Herr Bab leh-
ren. Aber Herr Bab hat noch zwei neue Lyriker
unter der Brille. ,,Zum Schluß unseren „W an de“
rung durch die neuerwachte deutsche Lyrik .
Wie mag sich die deutsche Lyrik gefühlt haben, als
Herr Bab nach ihrem langen Schlaf durch und durch
durch sie hindurchwanderte. Herr Bab ist nun ein-
mal für die Wege. Deshalb wirkt auf ihn schon der
Titel Wanderschaft sympathisch. Sein Verfasser
heißt Oskar Loerke. Auch Loerke, sagt Bab„, wan’
dert wie Paquet. Er führt Herrn Bab sogar nach den
Terrassen von St. Cloud. Loerke, sagt Bab, schreibt:
„schöne und zumeist schon sinnvoll gerundete Ge“
dichte“. Nur ist Loerke „noch nicht zu seiner
eigenen freien Form durchgedrungen“. Er muß
also noch mit Herrn Bab weitere Wege wandern.
Ein Gedicht besonders wirft Herrn Bab ganz aus
seinem Häuschen. „Aber das ganze Gedicht
schwimmt in einer wohlbekannten weichen
Musik, gibt mit seinen jambisch regelmäßigen
gereimten Zweizeilern einen 'Takt, der mehr der
erotischen S i t u a ti o n die quasi als Staf-
fage im Bilde steht,, gerecht wird, als
dem neuen und für das neue Leben wirklich sehr
bedeutsamen Bilde des? Vorstadibalkons selbst“.
Herr Bab hat sich total vertont. Der Takt wird
der erotischen Situation gerecht, und die Situation
steht quasi als Staffage im Bilde. Da muß wirk-
lich selbst die weicheste Musik davonschwimmen.
Und nun kommt Herr Bab zu seiner großen Liebe,
zu dem guten dicken naturfrischen Ernst Lissauer.
Während die übrigen neuen Lyriker Herrn Bab
das Reisen ersetzen, ersetzt Ernst Lissauer ihm
die ganze Natur. Lissauer beackert schon seit
Jahren die Erde, aber sein Weizen will nicht recht
blühen. Er kam daher auf die fruchtbare Idee, ein
Gedichtband Der Strom zu schreiben. Aber auch
dieses Wasser reicht nicht aus. Nur Herr Bab
wird davon überschwemmt. Und der Einf 1 u ß
Konrad Ferdinand Meyers auch, sagt Herr Bab.
Den hat Lissauer „in der Entwicklung zu seinem
neuesten Bande aufs glücklichste überwunden“.
Ueberschwommen wäre richtiger. Aber trotz dem
Ueberschwimmen bleibt Ernst Lissauer ver-
schwommen, wie er war. Auch Lissauer wandert,
nämlich zu einem Ziel. Jedoch ,,mit strenger Ge-
setzmäßigkeit, die ihn über all die anderen jungen
Lyriker von Talent erhebt.“ Lissauer fliegt auf
den Wegen zur Lyrik. Und wo er überall seinen
Stoff nimmt! Zum Fliegen „Von den Balkons
in der Vorstadt oder von den Zeigern der
Uhr, ob er im feierlichen Hymnus Haus und Ehe
segnet (gesegnetes Haus, gesegnete Ehe) ob er
das Bild großer Tonkünstler entstehen läßt, immer
sind seine Gedichte Bekenntnisse des neuen Glau-
bens“. Man sieht, daß Herr Bab auf dem Acker
von Ernst Lissauer in die Höhe sprießt, wie die
Helden jenes Paquet, zu weicher Musik in einer
erotischen Situation, die quasi als Staffage im
Bilde steht. So zum Beispiel:
Stuben an Stuben, langhin aneinandergestaut,
Stockwerk auf Stockwerk getürmt, Wolken und
; ■ Sterne verbaut,

Weithin Steine und Asphalt —
Gedankenstrich
Weithin Steine und Asphalt —
Wächst irgendwo Weizen und Wald?
Irgendwo schon. Man muß etwas für den Wei-
zen tun. Und wenn er auf der Straße riicjht w'achsen
will, muß man sie immer weiter entlang gehen,
wie der Ernst Lissauer aus seinen eigenen Ge-
dichten weiß. Man kommt wenigstens zum Wald.
Denn:
Straße, du Strom, breitrollend in Schotter und
Sand.
Weiter im grauen Glanz fließest du weit ins Land
Uferhin wechseln dir Wiese und Fels, Weinhang
und Hof, Buchenwald und Kapelle;
Immer im gleichen Maß, windunbewegt, treibst
du die erdene Welle.
Ein Gedicht, denn es reimt sich. Und der Bu-
chenwald ist erreicht.
Dieser Lissauer „ist die größte Hoffnung der
jüngsten deutschen Lyrik“. Ich kann dem guten
Vater Bab verraten, daß es eine Fehlgeburt wird.
H. W.

Die „Wilden“ Rußlands
Von D. Burljuk
Schluß
Aber außer dieser sind noch andere traurige
Seiten der russischen Malerei festzustellen. Die
früheren Führer — die Künstler der Kunstwelt sind
allmählich zur Todesruhe des „Bundes“ angelangt,
welcher schließlich bis zum Niveau der „Wanderer“
sank. (Es ist bekannt,, daß „Wanderer“ heute als
Schimpfwort gebraucht wird. Die Blütezeit der
zweiten russichen Sezession waren die 80—90er
Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, Um die Zeit-
schrift „Die Kunstwelt“ gruppieren sich die radika-
len Künstler der genannten Zeit, welche „Deka-
dente“ genannt wurden. Die in Deutschland be-
kannteren Künstler dieser Generation sind Somoff
und Sjeroff. Der frühere Redakteur der „Kunst-
welt“, Djagileff, veranstaltete 1906 im Pariser Sa-
lon d automme eine große russische Ausstellung,
wo als Hauptvertreter die Künstler der erwähnten
Richtung fungieren. Auf der Rückreise hat diese
Ausstellung in Berlin Station gemacht, wobei den
größten Eindruck Somoff hinterlies. Als die Zeit-
schrift endete, entstand der „Bund russischer Kün-
stler“, welcher den ,,Deutschen Künstlerbund“ im
allgemeinen sehr ähnlich ist. Die erste russiche
Sezession fing in den siebziger Jahren an. Es
war die Blütezeit des russischen Realismus. Die
große Vereinigung veranstaltete jedes Jahr eine
große Wanderausstellung, wonach auch diese Kün-
stler „die Wanderer“ genannt wurden. Eine der.
Hauptvertreter dieser Richtung ist Ilja Rjepin).
In den neunziger Jahren mokierte sich Rjepin
sogar über Puvis de Chavanne und Degas, die uns
heute zuckersüß erscheinen, in diesem Punkte
war die „Kunstwelt“ noch vollkommen liberal und
reproduzierte eifrig die französischen Impression^
sten, die ich Intimisten nennen möchte, und welche
Vertreter der süßen, prinzipienlosen Kunst sind,
der Kunst, welche ziemlich den Boden verlor und
nicht weiter als zum Begriff des äußerlich Schönen
und der Harmonie der Flecken kam. Diese Schwär-
merei vor der französischen Kunst bekam aber ein
plötzliches Ende, nachdem auch in Rußland eine
der neuen französischen Malerei parallele Richtung
entstand, das heißt in den feineren, reineren, talent’
volleren Seelen eine göttliche Lebensflamme em-
porstieg und eine mehr bewußte Beziehung zur
Kunst« Da entstand um dieses Licht herum ein

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