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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 133
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Kunowski, Lothar: Persönlichkeiten
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0190
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Umfang acht Seiten

Einzelbezug 20 Pfennig

BERLIN OKTOBER 1912

NUMMER 133

DRITTER JAHRGANG

Redaktion und Verlag
Berlin W 9 / Potsdamer Straße 18

Ausstellungsräume
Berlin W / Königin Augustastr. 51

Herausgeber und Schriftleiter
HERWARTH WALDEN

Inhalt : Lothar von Kunowski: Persönlichkeiten / Karl Borromäus Heinrich: Menschen von Gottes Gnaden / Roman / Joseph Adler: Die bankerotte
Natur / Paul Zech Durchwachte Nacht / F. T. Marinettl: Die futuristische Literatur / J. L. Windholz: Die Wissenschaft / Empfohlene Bücher / Emil
Nolde: Originalzeichuung

DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Persönlichkeiten
Von Lothar von Kunowski
Eine schreckliche Zeit fällte den Baum des
Deutschtums, Keime entsproßten dem zerfallen-
den Stumpf, ein Bild der Ueppigkeit und Verwor-
renheit. Sie übersichtlich zu machen, dient das
Schema der Gesellschaft. Aber das Ziel soll sein,
daß von Reisern einer und nur einer zum Baume
werde, auf und aus dessen Stamm Reis um Reis
sich nach Regeln organischen Wuchses erhebe,
daß also Gesetz zum Lebensprinzip werde. Gesell-
schaft muß dem Gesetz untertan sein, um es sich
anzueignen, bis es nicht aufgedrungen, sondern
selbst gewollt und geschaffen scheint und mit Frei-
heit zusammenfällt. Weil wir uns dem Gesetz
nicht freiwillig unterwerfen, sondern gezwungen,
ist Deutschland Ort der Halbtalente, der unferti-
gen Menschen, derer, die sich suchen, aber nicht
finden können, da keiner das Schema seines Stan-
des durchgeistigt, mit sich eins macht, so daß er
sichtbar wird als Teil eines Staatsganzen das mit
anderen Teilen zusammenhängt und gedeutet wird
durch Persönlichkeiten. Jene versinken im Beruf
und wollen nichts außer ihm kennen, diese treiben
nur das mit Liebe, was nicht Beruf ist, ohne es mit
ihm in Einklang zu bringen. Alle sind untauglich
für geselligen Austausch geistiger Güter, die sie
nicht verwerten können und dadurch ohne Zeit-
verlust und Bemühung für andere genießbar
machen. Nun muß man wissen, daß Neigung zur
Kunst, Musik, Philosophie, Politik bis zur Voll-
endung des Ausdrucks getrieben von Bedeutung ist
für das ganze Leben dessen, der solche Neigung
pflegt, denn allein hierin fühlt er sich als selbst-
herrschend und formbildend. Formvollendung
eines Gedichtes, eines Briefes, eines Zwiege-
spräches überträgt sich auf jede Lebensäußerung.
ja auf Bewegung der Augen und Finger und geht
ein in den Beruf. Haltung und Auftreten dessen,
der in kleinen Dingen des Amtes oder der Lieb-
haberei sich selbst bis zum vollendeten Ausdruck
auszuleben weiß, sind frei, kühn, selbstbewußt, wäh-
rend alle, die mit Widerwillen den Beruf nebenbei
erfüllen oder auf genialische Art lüderlich in
fremde Gebiete pfuschen, als Schwankende un-
sicher, unbestimmt daherkommen, niemanden zu-

friedenstellen, niemandes Freund sind, von nie-
mand gesucht werden. Schon innige Hingabe und
williges Empfangen der Kunst verleiht Geschäfts-
leuten ein Streben, Handlungen bis zur Erkenn-
barkeit und Sichtbarkeit ihres Wertes für andere
Leute auszugestalten. Wie Kunst einführt in das
Verständnis aller Formen, so gibt sie auch dem,
der sie pflegt, Formung und macht das kleinste
Talent fruchtbar für die Mitwelt, weil sie es er-
kennbar macht, fordert mit dem einen alle anderen.
Man muß das Leben mit der Lebenshülle in Ein-
klang gebracht haben, geistigen Inhalt einmal bis
zum harmonischen Ausdruck durchdenken, um Ur-
teil über den Wert der eigenen Persönlichkeit zu
erreichen, ehe man sich selbst zum Maßstab an-
derer Menschen machen kann.
Individuen von innerer und äußerer Abrundung
tragen den Drang nach Verbindung mit verwandten
Geistern zur Schau, sie organisieren ihr Aeußeres,
damit man sie erkenne und liebe, sie überbrücken
Standesunterschiede mit Hilfe der Kunst und kön-
nen zur Gesellschaft werden, nach ihrem Grund-
satz, zugleich für und durch die Gesellschaft zu
wachsen. Da es dem Einzelnen unmöglich ist, die
Größe der Verhältnisse und des Geisteslebens zu
überschauen aus eigener Kraft, so tritt hier Kunst
ins Amt. Menschen mit Fähigkeiten, den inneren
Zusammenhang der Natur auf ihre Außenseite zu
beziehen und in Werken anschaulich zu machen,
schaffen Vorbilder organischer Entwicklung und
geselliger Geister, die in gemeinsamen Gesetzen
sich frei bewegen. Kunst macht aus Dachstube und
Prunkgemach, aus Häusern und Hütten, aus Werk-
statt und Studierzimmer, aus Kirche und Herr-
scherpalast ein einiges Haus, eine zugleich geistige
und leibliche Werkstatt, ein himmlisches König-
reich. Aus Räumen macht sie Raum, darin jeder-
manns Form und Art, Bewegung, Streben, Geltung
gewinnt, weil allen, wie sie sich gebärden, gemein-
sam jene Neigung ist, die Bäume, Sträucher, Blu-
men von tausenderlei Abkunft zur Sonne zieht,
zum Licht. Kunst formt aus Teilmenschen ganze
Menschen, die Individuen sind, aber sich ergänzen
zum Typus des Volkes, zu Persönlichkeiten, die
mehr Leben als das eigene in sich zusammenfassen.
Darum sehen wir den Künstler auf Jagd nach
Wesen, die ihre Innenwelt wahrhaftig aussprechen,
er flieht entstellte Natur des Modemenschen, meidet

die Ungestalt des Spießbürgers, Folge der Träg-
heit oder einseitiger Arbeit und will nichts wissen
von Angehörigen des Volkes, die ihre Natur ver-
leugnen, um die Gebärde der feinen Welt stümper-
haft nachzuäffen. Staunend gewahrt er das große
gelassene Gebaren dessen, der nur seinem Gotte
lebt, der jeden Beruf flieht, der ihn verunstaltet,
und jeden Beruf sucht, durch den er Leben und
Gestalt gewinnt, unermüdlich folgt er den Mädchen
und Frauen, die Selbstvergessenheit nicht verlern-
ten, deren Anmut Wahrnehmbarkeit der Seele
durch den Körper ist. Bei solchem Anblick würde
er pflichtvergessen sein,, wenn er versäumte, ihn
festzuhalten, damit das ausstrahlende Leben sol-
cher Persönlichkeiten anderen Menschen zugäng-
lich würde. Wir sind durch lässige Lebensform
blind geworden, so daß neben uns reiche Wesen
leben, ohne daß die Schätze ihrer Natur gehoben
würden.
Die Kellnerfratze, das ausgekämmte Pomaden-
und Poposcheitelgesicht, die gestärkte und ge-
bügelte Physiognomie, das nußknackerhafte Lachen,
die kristallinische Versteifung der Gestalt zum
Kleiderständer, das Tiktak pendelnder Glieder, die
brüchige Bewegung des Hut abnehmenden oder
Hand reichenden Armes und das Zusammenklappen
der Verbeugung um das Scharnier der Hüfte müs-
sen die Respekt gebietende, Abstammung ver-
ratende Bedeutung verlieren. Das tierische Wan-
ken zum Bier mit klobig stopernden Gliedern, über-
mäßige Verbreitung des Gesäßes auf der Fläche
schwankender Stühle, Aufstellen von Metzgerkeu-
len rechts und links als Postament für Hängebauch
in weißer Weste und der luftdurchfuchtelnde, Tisch-
platten hämmernde Arm mit stoßbereitem Ellen-
bogen, das dröhnende Lachen, das Tisch, Stuhl,
Zimmerboden. Wände und Haus erschüttert, dieses
dickhäutige Wesen voll Gefahren für alles Zier-
liche, Zarte, Gebrechliche der Umgebung, gehüllt
in Tabakdampf, den der Blasebalg geschwollener
Backen zum Schornstein des Mundes entsendet,
dies insgesamt als Ideal der bürgerlichen Kraft und
Ursprünglichkeit bedarf der Umgestaltung, zumal
das Spucken, Händereiben, Gähnen mit aufgeris-
senem Maul übertrieben wird, während feinere
Regung, das Lieben und Hassen, Wohlwollen und
Abneigung, Milde und Zorn, teils mit priapischem
Schmunzeln, teils mit stierartigem Erröten, An-

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