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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 198/199 (Zweites Februarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht, [4]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0183
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noch zurück zu treten, starrte grauenumfangen
nieder.

Und im selben Nu war es ihm, als vermöchte
aut einmal sein Blick alles zu beobachten, was dort
unten geschah — auch jetzt, während er auf die-
sem Fleck still stand, unaufhörlich Verstümme-
lung und Tod unter diese unsichtbaren, diese ar-
beitsamen und geschäftigen Völker hinuntertre-
tend, die dort unten in der Erde wohnten — in Un-
mengen Männchen und Weibchen und unfaßlich
winzig kleine Kinder mordend!

Er meinte leibhaftig die gräßlichen Zerquet-
schungswunden unterscheiden zu können, das häß-
liche Sichwinden und Springen der Todeskämpfe,
ein grauenvolles Wirrwarr von Tortur in unend-
lich kleinem Format; hinter seinen Trommelhäuten
meinte er die schwachen, unzähligen Schreie all
dieser Qual, das Gekreisch der Hilflosigkeit und
des Hasses spüren zu können; in seinen Nasen-
löchern fühlte er den faden, Übelkeit erregenden
Geruch des Blutes, das in Strömen floß, überall
hinabsickernd, helltönend von Stein zu Stein trop-
fend! Und beständig tiefer hinab erstreckte sich
diese Zerstörung, während er hier stehen blieb —:
Siehe, siehe jetzt, war es seine Sehkraft, die auf
einmal, zauberhaft scharf, das Ganze durchschaute,
oder war es der Erdboden selbst, der auf einmal
durchsichtig wurde wie ein Meer oder . . . oder
war es wirklich ein blaugrüner, kühler Schimmer,
ein kalt phosphoreszierender Schein, der unver-
mutet von dort unten her aufflammte, von dort
ganz unten, aus der untersten Tiefe empor, wo . . .

Ja! . . .

Er stieß ein Stöhnen aus.

Das Herz zum Zerspringen angespannt —:

Denn es war ihm jetzt, als werde — gleich
einem Teppich — die ganze verdeckende Erd-
schicht weggezerrt, mit Bäumen und Blumen, mit
Gittern und Gängen und Kies . . . und vor seinen
Augen lag entblößt und sichtbar das dort unten
selbst!

Der Friedhof selber offenbarte sich kilometer-
weit seinem Blick, ein unübersehbares Feld des
Todes, Sarg an Sarg in Reih und Glied . . . wie
niedrige und schwarze Baracken, sorgfältig und
endlos in langen Reihen hintereinandergestellt, groß
und klein — neue und alte!

Hier schimmerten noch, durch den Schleier der
Dämmerung, helle oder dunkle Farben, Vergol-
dungen, Versilberungen, Zink und Eisen von Be-
schlag und Ecken. Da waren es schon vermoderte
Deckel, wohinter es gedämpft und grün glimmte;
hier ganz zernagte Bretter, durch die die grauen-
vollen Fetzen von Fleisch zundrig und naßkalt glüh-
ten! Da hinten zur Linken saß ein Schädel auf den
nackten Halswirbeln, nach oben zu geknickt, als
hätte er sich aufgereckt, um einen mit dem Schwarz
der ungeheuren Augenhöhlen unter der knochen-
gelben Kupbel anzustarren. Hier rechts von ihm
lag ein langer, noch vollkommen fleischbekleidetcr
Körper ausgestreckt auf dem Rücken, die Zähne
grinsten eiweiß hervor — zwischen zwei Lippen,
die sich zusammengezogen hatten, wie zu ein paar
schwellenden Trauben, schwarzblau und blank;
und da gerade vor seinem Fuß lag ein ganz kleines
Kind: auf seiner entblößten Brust, die rot gespren-
kelt durch eine mürbe Stelle in dem gelblichen
Hemd hervorguckte, funkelte ein goldenes Me-
daillon!

Ja, ja, nach allen Richtungen hin, unendlich weit,
vor ihm, hinter ihm, rechts und links, wohin er
sich auch wandte —: da lagen all die Beweinten
und Vergessenen, wortlos, Seite an Seite, und lösten
sich langsam auf! Konnte man sie wohl wiederken-
nen, konnte man an ihren übriggebliebenen Kno-
chen wohl erraten, wer sie gewesen waren, ob ihr

Leben arm oder reich gewesen war, ob sie jemals
erlangt hatten, wonach sie sich sehnten, ob sie geliebt
worden waren oder nicht?! Ach, er stand an dem
Ort des Entsetzens! Hier wuchs zahllos und üppig
alles, was des Todes war, ein meilenbreites, ein
abscheuliches Feld, in dem die bleichen Knochen
so dicht wie Grashalme gepflanzt waren — und
hoch über ihnen leuchtete hier und da die schwe-
felblaue oder grtinspanige Flamme der Verwesung
gleich eisigen Blumen auf! . . .

Im nächsten Augenblick überfiel ihn der unge-
heure Geruch, der entnervende, verheerende Ge-
stank, der dick aus diesen allem hier ausströmte
— eine totbringende, eine sichtbare Pest'atmo-
sphäre, die kroch und lief und still stand! die
erstickende und schwammige, gigantische Arme
hatte, treibende Flächenwunden überall und gif-
tige, klebrige Beine, die Siebenmeilenschritte
machten! ein riesengroßer, ein kolossaler, ein weiß-
blasser, geschwollener Kadaver, der sich auf ein-
mal vor ihm bis zum Himmel erhob -— mit einem
Atem, der totschlug und mit Augen, in denen man
ertrank!

Er warf den Oberkörper schaudernd zurück,
schleuderte grauenerfaßt beide Hände vor —• und
hörte da, im selben Nu, den tausendfältigen, gräß-
lichen Laut von Nah und Fern! den unaufhörlichen,
den leise murrenden Lärm von beständigem und
feuchtem Verfall! seufzend gaben die Särge hier
und da nach, und mit einem Zischen entfuhren die
Dünste, rieselnd stürzte der Kies durch Risse und
Spalten hinein, die Leichen rührten sich düster,
stießen mit einem pfeifenden Fauchen ihren stin-
kenden Hauch aus — und horch, still, was war
das für ein entsetzliches, ein ununterbrochenes Ge-
räusch, das man mehr ahnte als hörte, ein unauf-
hörliches, winzigkleines Zermahlen und Zermalmen
überall, ein Verschlingen ohne Pause . . . ach, ja,
jetzt begriff er es: das war ja die Mahlzeit der
Millionen vom Morgen bis zum Abend und wieder-
um vom Abend bis zum Morgen! das waren die
Billionen von farblosen und lichtscheuen Würmern,
die fraßen und tranken und dazu plauderten, das
war die ungeheure Erde selbst, die mummelnd,
schmatzend, kauend ihre unersättlichen Eingeweide
füllte . . . mein Gott, war dies denn wahr? war
dies Wirklichkeit, das, was er hier hörte und roch
und sah —: das alles, was wir dort oben vom
Leben her kannten — hier lag es jetzt und moderte
hin! alles, was wir haßten — hier war es verbor-
gen, um ganz zu verschwinden! alles, was wir lieb-
ten — hier war es zur Ruhe bestattet, um restlos
ausgelöscht zu werden?

Aber da war es ihm, als werde auf einmal sein
Herz gellend zerrissen.

Er erhob mit einem Ruck dumpf stöhnend sei-
nen Kopf.

In seinen Gedanken brannte ein Schrei —:

Sie!

Sie, deren er sich an diesem Ort nicht zu er-
innern wagte?!

SIE, die ihm vor zwei Jahren geraubt, getötet,
seinem Blick und seinem Leben entzogen war —
wo war sie jetzt?? . . .

Er schlug mit einem Gebrüll beide Fäuste gegen
sein Gesicht, preßte wild knurrend die Augen zu,
wollte nicht sehen — und sah trotzdem:

Mein Gott, dort, da hinten, unter diesem Mar-
mormonument, das in der Ferne wie ein mächtiger,
ein schneebleicher Schatten hinter den schwarzen
Bäumen schimmerte! unter diesem blumenüber-
deckten Hügel, umrahmt von einem Gitter mit dem
Feuer goldener Spitzen, da hatten sie ihren Kör-
per hinäbgelegt — den geliebten und mißhandelten!
unzählig viele Male geküßt und umfangen in un-
nennbarem Glück — darauf zerrissen von einem

blindgeborenen Wesen mit einer Klinge, von einer»
Tier der Tiere mit blutigem Zahn — und jetzt, vor
zwei unendlich langen Jahren . ■ . nein, ich will es
nicht, ich wende den Kopf ab, ich fliehe, ich reiße
mir die Augen aus, ich will nicht sehen, hört ihr,
fort, nehmt es weg, ihr lügt, sie ist es nicht, ich
weiß es, ich fühle es so deutlich überall, sie kann
es nicht sein, sie ist das da niemals gewesen, Hilfe
fort von hier, laßt mich los — nein, nein, ich will
doch dahin, laßt mich gleich dahin kommen, es
eilt, ich will ihre Glieder mit den meinen decken,
ich will ihren Körper vor ihnen allen hinter mir
selbst verbergen, ich will einen unerbittlichen
Krieg, Tag und Nacht, gegen alle die führen, die
sich dort begehrlich rühren, ich will mit Armen und
Beinen und Zähnen dagegen ankämpfen — gegen
diese Stummen und Weißen, die hier gefräßig um
dich herum kriechen, Annie, hast du gehört, sei
nicht mehr bange, ich komme, meine Geliebte, ja
ja, ich komme so schnell ich kann! . . .

Langsam ward er sicli seiner selbst wieder be-
wußt.

Er stand schwindelnd da, mit hängenden Armen,
mit keuchendem Atem, den Kopf vornübergebeugt,
als sei der Halswirbel gebrochen.

An sein Ohr drang auf einmal, wie aus weiter
Ferne, das tiefe und leise Geräusch eines Stöhnens
— gleich dem fast unhörbaren Glucksen eines un-
terirdischen, reißend rinnenden Stromes.

Er zog die Lippen zusammen, lüftete darauf mit
abgestorbener Hand seinen Strohhut ein wenig
von dem Scheitel, trocknete seine Stirn, fühlte sich
vollkommen erschöpft, todmüde, es schmerzte in
seinen Gelenken, die Knie zitterten unter seinem
Gewicht — er wagte nicht zu versuchen, sich des-
sen zu erinnern, was soeben geschehen war.

Sah sich dahingegen langsam um, erblickte eine
Bank einige Schritte weiterhin — auf einem klei-
nen offenen Platz.

Entschloß sich, dahin zu gehen, merkte im sel-
ben Nu, daß er über alle Maßen durstig war, die
Zunge klebte ihm dick im Munde, seine Schläfen
brannten. Er machte eine schmeckende Bewegung,
für eine Sekunde war eine Erinnerung im Begriff,
dadurch in ihm zu erwachen, ein Kälteschauer
rannte durch seine Glieder — aber dann schüttelte
er fieberwild den Kopf und fing an zu gehen, be-
ständig den Hut in der Hand, die Füße hinter
sich herschleppend.

Er erreichte ungestört die kleine, hellgestrichene
Gitterbank, setzte sich schwer und langsam nie-
der — und fühlte sich unerklärlich befreit, schon
in dem Augenblick, wo er saß.

In einem Haus, weit entfernt nach rechts zu,
außerhalb der Friedhofsmauer, wurde in einem
Zimmer des vierten Stockwerks das elektrische
Licht angedreht — es sprang als vier gelbe, kleine
Platten auf einmal da hinten in den Fenstern auf
und machte gleichzeitig das Halbdunkel um ihn
her fast schwarz.

Hinter ihm begann die Ausgangsglocke auf ein-
mal wieder zu läuten: Gut, gut, jawohl, in fünf Mi-
nuten schließen sie das Tor, es ist noch Zeit
genug! . . .

Er hatte, sich immer wohler fühlend, den Hut
an seine Seite gelegt, hatte das eine Knie über das
andere geworfen, sich zurückgelehnt — und legte
nun den rechten Arm über die Rücklehne der Bank
den Stock in der linken Hand haltend und ihn un-
willkürlich vor sich hin und her führend, kleine
Zirkelbögen in den blonden Kies ritzend.

Es hatte ein wenig zu wehen begonnen, wäh-
rend es gleichzeitig dunkler wurde.

Mit Wohlbehagen bot er seine Stirn der Kühle
des Windes dar, genoß einen Augenblick in allen
Poren seine Frische. Lauschte sodann, plötzlich

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