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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 198/199 (Zweites Februarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht, [4]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0184

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lächelnd und voller Frieden, dem tausendzüngigen
Laut nach allen Seiten zu um sich her; ließ dann
langsam seinen Nacken ein klein wenig hintenüber
sinken, seine Augen an dem Anblick dieser schat-
tendurchwobenen Gruppe von Hängebirken wei-
dend, die dort dicht vor ihm stand — mitten auf
dem kleinen runden Platz, an dessen Rande er saß.

Trauer, dachte er gleich nachher, und entsann
sich unvermutet einer Person, die er vor einigen
Jahren in einem seiner Bücher geschildert hatte —:
Trauer, was für ein Unsinn war das, es gab nichts
in der. Welt, was mit Recht den Namen Trauer
tragen konnte!

Ich entsinne mich, grübelte er gemächlich wei-
ter: ich entsinne mich, wie es mich Tag und Nacht
quälte, damals, als ich von diesem Mann schrieb,
dessen ganzes Lebenswerk ihm im Laufe von
wenigen Minuten völlig und unrettbar und für im-
mer zwischen den, Händen zusammengebrochen
war — wie abscheulich es mich peinigte, daß ich
gleichsam nicht in die Stelle hineindringen konnte,
woher das entsprang — was ich mir damals unter
Trauer vorstellte!

Denn ich glaubte ja steif und fest —: daß
Trauer sozusagen ein ganz bestimmtes Land sei,
ein fremdes, ein seltsames und ungeheures Land,
wohin man unter gewissen Umständen plötzlich
versetzt werden könne und von wo es keinen Aus-
gang gab! Oder, wenn man will, eine Art mysti-
sches Schwarzes Meer — wo der Wind weder Tag
noch Nacht einen andern Ton hatte, als den Schrei;
wo die Wellen sich unaufhörlich, lang, schwarz,
grausam und mit weißen Kämmen dahinwälzten;
wo eine schäumende Brandung und wo unbe-
rechenbare Unterströme immer den Unglücklichen
von neuem hinausrissen, im selben Nu, wo er sich
gerettet glaubte; und wo sogar die Vögel dasselbe
unveränderliche Gewand von ewigem Kohlschwarz
hatte»!

Nicht wahr, so ungefähr stellte ich mir das vor,
was man unter dem Begriff Trauer verstehen
müsse —: ein grenzenloses, ein überirdisches Ge-
nießen — wenn auch seine Farbe schwarz war!
eine alles andere übertäubende Seligkeit — wenn
sie auch unbarmherzig jeden verzehrte, der sie
kennen lernte! ein ekstatisches Glück — wenn
auch mit dem starrmachenden Antlitz einer Me-
dusk . . . aber es war mir auf keine Weise möglich,
dies niederzuschreiben! es wurde fortwährend, wie
ich es auch drehte und wendete, zu einem so son-
derlichen Mischmasch, schien es mir immer —: zu
einem unablässigen Auffahren in Zorn, im Haß, in
Sehnsucht, und gleich darauf zu einem ebenso
jähen und tiefen Hinfallen, beides mit immer grö-
ßerer Gewaltsamkeit abwechselnd und mit immer
steileren Uebergängen! vor allem aber eine wahn-
witzige, entnervende und kraftverschwendende,
eine qualvolle, mehr und mehr zerstörende Rast-
losigkeit — kurz: eine Marter schlecht und recht,
aber keineswegs jene süße und todbringende
Qual, wie ich sie mir im voraus vorgestellt hatte!

Und wie mag dies nun sein?

Hatte ich Unrecht, mir die Trauer so vorzustel-
len — und war es also richtig, das, was ich
schrieb? ...

Er strich sich langsam ein- oder zweimal über
die Stirn; ließ darauf die Hand mit einem leisen
Schlag wieder niederfallen; dachte einen Augen-
blick daran, sich eine Zigarette anzuzünden, ver-
gaß es indes sogleich wieder.

Ich entsinne mich auch noch sehr wohl, grü-
belte er gleich darauf von neuem: ich entsinne

mich, wie mir höchst schlecht zumute war bei die-
sem ganzen Passus in meinem Roman. Ich las diese
Stelle wieder und wieder durch, ehe ich sie in den
Druck gab, noch bei der Korrektur mit unbestimm-

ten und entschlossenen Plänen, sie ganz und gar
ändern zu wollen — aber doch ohne jemals etwas
anderes auszurichten, als hier und da kleine Feile-
reien. Nun, und als dann das Buch erschien, und
ich wartete, daß Freunde und auch Kritiker die
Geißel tüchtig tanzen lassen würden — da war das
einzige, was ihnen in dem Werk wirklich gefiel,
das einzige, was ihnen wirklich gut erschien —:
das waren gerade diese Seiten; ja, sagten sie zu
mir: da hätte ich in Wahrheit Trauer geschildert;
da hätte ich mit kundiger Hand bis zur letzten
Fiber ein Menschenherz entblößt und uns sehen las-
sen, was Trauer eigentlich ist! . . .

Er fühlte sich auf einmal gereizt.

Es war ihm plötzlich vollkommen klar — ohne
daß er selbst noch recht wußte, weswegen —: daß
es ja selbstverständlich ganz und gar zutreffend
war, was er damals dunkel empfunden hatte. Daß
diese Menschen ganz einfach gar nicht ahnten, was
Trauer war! Naturnotwendig nicht! Wenn Trauer
wirklich nichts weiter oder nicht mehr war, als
was er davon in jenem Buch erzählt hatte, und
wozu der erste beste ja oder nein sagen konnte . . .
was war dann das Ganze?! Nein, nie und nimmer,
das fehlte auch noch! Nein, das, was ihm damals
im Wege stand, das war genau dasselbe wie jetzt:
er selbst wußte nicht, was es war, zu
trauern! Und wie mochte es wohl zugehen, daß er
das nicht wußte? Ja, der Grund war ... so ab-
scheulich und lachenerweckend es auch klang, der
Grund war der: daß gerade alle die andern ihn
daran hinderten, trauern zu können! Ach, es war
das Bürgerliche in seinem Herzen, es war das Ge-
meine in seinem Sinn — daß er sich nie ernstlich
vor allen diesen Gleichgültigen, diesen Fremden,
all diesen Andern zu verschließen vermochte! Es
war sein zerspaltenes Ich, das ihm nicht erlaubte,
restlos bei der Einen in der Welt zu bleiben, die er
liebte und die ihn liebte — das sich aber tief da
drinnen immer an den Gedanken an die bürger-
liche Gesellschaft, den Nutzen und die Kunst klam-
merte, selbstverständlich alles nur mit dem einen
einzigen und häßlichen Zweck: selbst zu leben!
Haha, ja, das war ihm nicht vom Leben beschert
worden, dieses Rätselhafte, Größte von allem, dies
Unaussprechliche und Allergrößte —: das Hei-
matsrecht in jenem fremden und ungeheuren Lande
zu haben, wo die Trauer zu Hause ist! in jener
grenzenlos strengen und strahlenden Stätte, noch
mehr purpurschön und nachtschwarz, als irgend
etwas anderes — die zu schildern er so oft ge-
träumt hatte, damals in jenem Jugendbuch, und
auch so viele Male später! Nein, für ihn galt
durchaus, daß ihm die Fähigkeit fehlte zu diesem
Seltensten und Adligsten von allem, zu diesem
unbeugsam Strömenden, das aus eigener, alles
überwältigenden Kraft geheimnisvoll alles vernich-
und alles hervorbringt! Gerade das, wovon der
Alte dahinten in unbestimmten Worten gefabelt
hatte: der Blick in das schwarze Land, dessen
Schönheit und Süße allen Verstand überragt — und
wovon Sie, die Fremde, der Vogel der Trauer, mit
ihrer ewigen und schmächtigen, ihrer nachtschwar-
zen, sanghaften Stimme vorhin gesungen hatte,
dort hinten von der Gruft her, wo sie stand! . . .

Er sah von neuem das Gesicht dieser Fremden
vor sich; ohne zu beachten, daß er diesmal — ob-
wohl er in Wirklichkeit ihr Antlitz ausschließlich
im Profil gesehen hatte, in jenem einzigen Nu,
während sie an ihm vorüberkam — es sich doch
jetzt en face vorstellte; mit zitternder Zärtlichkeit
und Ehrerbietung, mit atemloser Demut starrte er
sie an: die stolze und hohe Form ihres Mundes, die
großen, weit aufgerissenen und schwarzen Augen
unter den Bogen der zarten, dunklen Brauen, das
schmale kaiserliche Oval des Antlitzes, die Stirn

von dem Schatten des dichten Haares bedeckt, die
überirdische Schönheit der Haut, die kein Weinen
hatte beflecken können, und tief drinnen aus dem
Blick heraus dies lautlos und ruhig lodernde Feuer,
ach, diese Höllenflamme und dieser Himmelsbrand,
das strahlende Adelszeichen derer, die wissen, was
es ist, zu lieben und zu verlieren — zu leben! . . .

Er schob auf einmal, Heftig entnervt, mit Ge-
walt diese Gedanken von sich.

Suchte, ohne selbst fassen zu können, aus wel-
chem Grunde, sich gleich darauf das Gesicht des
Aufsehers zurtickzurufen — und empfand eine son-
derbare Heilung dadurch —: So ein richtig braves,
altes Gesicht! ach, die ganze vielfältige Menge, alle
die Millionen von Gesichtern waren enthalten in
diesen geraden und nichtssagenden und liebens-
würdig einfachen Flächen und Linien!

Stand der Mann nicht, sozusagen unmittelbar
sichtbar, durch zahllose Telephon- und Telegra-
phenkabel, nach Norden, Süden. Westen und
Osten, in Verbindung mit dem ganzen gesammelten
Haufen aller Welt, ewig derselbe und ewig anders!

Gespenster, Tod, Aufklärung, Phrasen aus Ro-
manen und Zeitungen bunt durcheinander, Fried-
hof und Krematorium, Unglück und Glück und Ge-
rechtigkeit — jawohl, die ganze Skala hinab, von
Anfang bis zu Ende, das ganze unerschöpfliche Ar-
senal des Aberglaubens! Von allem in der Welt
wissend — mit Ausnahme des einen, was man in
Wahrheit wissen kann! Unbekannt mit allem Mög-
lichen -— ausgenommen mit dem, wovon wirklich
niemand das geringste weiß! Bis an den Rand mit
Redensarten angefüllt, mit auswendig gelernten
Worten! Zu gleicher Zeit kaum imstande, seinen
mehr als bescheidenen Platz auszufüllen, doch mit
einem jeden Satz darnach angelnd darüber hinaus-
zureichen — und trotzdem, wenn es darauf ankam,
ohne auch nur ein einziges Mal, nur ein Wort an-
führen zu können, das aus dem Tiefsten dadrinnen
herauskam — das, wovon doch auch er einen ge-
heimen, einen verborgenen und unauslöschlichen
Funken besaß! Ja, war dies nicht aufs Haar das
Porträt —- von ihnen allen?! Selbst diese naive
Freude darüber, daß die Frau und nicht er selbst
gestorben war! Hahaha, diese prächtige Tausend-
kreatur —: siehe, der Mann war doch schließlich
in Wahrheit ein leiblicher Bruder von uns allen!
Oder Unsinn, viel mehr noch! Unser aller Vater
war er — Adam selbst in seinem Paradiesesgar-
ten, splitternackend, neugierig und ängstlich halb-
wegs der Stimme der Schlange lauschend, ja: der
Musik des echten Gefühls, dem einsamen, erhabe-
nen Ton der Trauer, der, alles durchdringend,
seine Götterstimme hinter einem Gebüsch erhob,
des Lebens Erkenntnis von Gut und Böse hinaus-
singend! ...

Er war heftig aufgesprungen, eilte mit hastigen
Schritten hin und her, rauh auflachend, mit rätsel-
haften, triumphschleudernden, gehässigen Blicken
nach allen Seiten, den rechten Arm mit gewaltsa-
men Gebärden in der Luft schwenkend.

Jetzt blieb er wieder bei der Bank stehen, zit-
terte erregt mit bleischwerer und fieberheißer
Stirn, mit unruhig pochendem Herzen.

Er streckte unwillkürlich die Hand nach seinem
Hut aus, der noch auf den hellen Gitterstäben lag,
gleich einem zirkelrunden, kreideweißen Kegel —
ergriff ihn, setzte ihn hart auf den Kopf, wandte
sich um, wollte gehen, nach Hause eilen — und
ward dann plötzlich, unerwartet, angstumsponnen,
von dem unbestimmten, unerklärlichen Bewußtsein
erfaßt, diesen Ort wieder zu erkennen —: ihn zu
erkennen?

Woher?

Von wann?

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