braucht ihr das grade nicht in meiner Wohnung
abzumachen.
Es biieb unaufgeklärt, ob Sine in der Verwir-
rung ihrer Sinne die Versprechungen des Vaters
vernahm. Geistesabwesend hatten sich ihre Augen
geöffnet. „VeriaBt mich nun AHe!" Das arme
Kind ahnte garnicht, daß ein tiefbetrübter Vater
an ihrem Bette kniete und auf das erste Zeichen
ihrer kindiichen Liebe wartete. Ais Doiiing end-
lich hinausging und die Tür hinter sich schioß, lag
sie im tiefen Schlaf. Er weinte.
Sine schüef ihren gesunden Jungmädchenschiaf
nach der Liebesnacht, der Salmiaktrinkerei und
dem Kampf gegen den Arzt. Gegen Mittag betrat
Seidenfaden das Heim. Frau Gabrieia eilte so-
gleich zu Seidenfaden und berichtete Sinens ver-
eitelten Selbstmord. Der Bräutigam stand auf
der Altane und erhielt den schrecklichen Stoß
mitten in seinen Sommernachtstraum.
Seine Bücher, die er im Arm trug, stürzte er
plumps zu Boden, schlug die Musiktasche drauf,
warf den Magier-Spitzhut fort und stieg gebückt
zur Halle hinab, wo er auf der Bank am Eingang
Elend ertrug. Er stützte die Wange mit der Hand,
vornübergesenkten Hauptes, hängender Locken,
und Gabriela hörte ihn flüstern: „Das haben sie
dir getan!" Er durfte nicht zu Sinen, Sine litt
und wäre lieber gestorben.
Nach Seidenfaden kehrte Frau Dolling zurück,
sie schritt verächtlich an Sinens Bräutigam vor-
bei und vernahm von Frau Gabrielen die Neuig-
keit des vereitelten Selbstmordes mit ungeheuchel-
tem Gleichmut. Sie ließ sich nicht herbei, das
Zimmer der Stieftochter aufzusuchen.
Kurz vorm Essen ging Vater Doiiing zu seiner
Tochter. Sine erhob sich und warf sich weinend
an seine gerührte Brust. Dolling schwur ewige
Vaterliebe.
Seidenfaden wurde als Schwiegersohn „gedul-
det". Sinen legte die Schwere ihres „Selbstmordes"
ein Vorsichts-Anstands-Krankenbett von vierzehn
Tagen auf.
111
Sine hatte die Füße aufs niedre Fensterbrett
gestemmt, ihr jungenshaft schlanker Rücken war
vorgebeugt, und sie nähte emsig und gewandt den
schönen seegrünen Tuchstoff, der über ihrem
Knie in schimmernden Falten lag. Morgen leuch-
tete in das ebenerdige Eckzimmer durch seine
breiten Fenster, in das Spielzimmer der Kinder,
aus dem sie bei den Schularbeiten die ruhige Vor-
ortsstraße auf die flachen Hände nahmen.
Hell und still war es Morgens für Melusine
und Nonne, um zu nähen, um Geheimnisse} zu
haben und Rat miteinander zu tauschen. Ein
lustiger Fries bunter Tiergestalten, von Jagd-,
Tanz- und Festaufzügen unter tropischen Bäumen
wandelte zur Kinderfreude rund die Wände ab.
Weiß mit rotem Rand waren Vorhänge und
Wäsche, rot bemalt auf weißem Grund Truhen
und Türen, einen roten Rand hatte die Zimmer-
decke und rote Fensterkreuze standen vor der
gemächlichen Straße.
Nonne sang droben im Haus. Ihre Mädchen-
lieder stiegen frei in den blausten Tag, sie brachte
die Stuben in Ordnung mit den geschwinden
Händen, Vorhänge gingen auseinander, anspruchs-
voll sich brüstende Möbel rückten karg zusam-
men, Teppiche rollten) zum bedeutungslosen Bün-
del. ln der Oktoberkühle waren Fenster und Tür
weitoffen für den wenigen Sonnenschein des
letzten Herbstes.
Venus leuchtete nicht im Tag, Jupiter war
stumm, Saturn drohte Melusinen mit Zahl und
Schrift. Das englische Horoskop hatte Sine vor
diesem Tag gewarnt. Vor Denen, die ihr heute
Unglück bringen konnten, hielt sie sich versteckt,
sie vermied Unterschrift und Geldzahlung, sie
schwänzte gar das Aktzeichnen in der Malklasse.
Sinch-ens langes faltiges Fräuleins-Gesicht war
welk und grau, es blieb puderfrei an diesem
Sorgetag, das Unheil zu bannen:
„Der Urd Riegel sollen dich allseits wahren!"
Abends, wenn Sterne scheinen, wird Sine sich
ins süße Leben wieder hineinwagen.
Nonne im Arbeitskleid leuchtete mit blauen
Augen, ihr Lied war Geläut der Pförtnerglocke
zum Kloster, es hatte milden Ton und tröstete Zu-
fluchtheischende wachen Traumes. Der Brief-
träger schellte, der Monteur sah die Lichtleitung
nach, es stand ihm der Sinn nach Gespräch von
der Leiter herab mit Nonne, kleine Kinder auf
der Treppe wollten guten Tag gesagt haben, eine
Nachbarin wollte getröstet sein. Nonnens last-
barer Rücken trug die Mühe der mühlos Vorüber-
gehenden, das Verderbliche der achtlos Befehlen-
den. Wer anders wohl als nur sie mußte die Ar-
beit tun, die allgegenwärtige. Würde, sicherten
Trost barg Nonne, und ihre Augen hehlten nie
Denen, die ihr vertrauten. Mutter in ihrer natür-
lichen Bereitschaft, spielte sie mit Kindern ihr mär-
chenschlichtes Leben.
Melusine harrte argwöhnisch in der Mitte ihres
Spinngewebs, zitternd vor der gemeinen Berüh-
rung. Als Nonne ins Zimmer zu ihr trat, besann
sich Sine, daß von Nonne keinesfalls böser Ein-
fluß drohte. Sine hatte das Haar gelöst, schönes,
echtes, dunkles Haar, aber rot gefärbt. Sie hob
die Lider von zwei schönen, runden und leeren
Augen; das Liderheben tat sie mit der Schwere,
die aus dem Wissen der Frau verdichtet war, im
Paradiese der Anbetung zu ruhen.
— „Ist das Kleid noch immer nicht fertig?
Warum haben Sie es wieder aufgetrennt? Es saß
sehr gut, als die Schneiderin es brachte —", rief
Nonne und beugte sich über Sinens Schulter, um
das seegrüne Kleid zu beschauen, welches Sine
zum dritten Male auftrennte und wieder zusam-
menfügte. Es war immer noch zu wenig knapp um
den Busen, zu wenig schmal und kurz um Hüfte
und Beine.
— „Heut solls fertig werden. Du hilfst beim
Anproben, Nönnchen! Ich muß immer scheen
schlank for meinen Bunten sein", berlinerte sie.
„Wenn ich nicht mehr schlank bin, nimmt er ne
Sechzehnjährige".
Nonne lachte, schob stürmisch eine Truhe an
der Wand, als wirbelte eine Pauke:
„Quatsch, Sie sind mit dem Bunten jetzt zehn
Jahre zusammen, da kann er nicht verlangen, daß
Sie ein kleines Mädchen ohne Busen und Hüften
mimen."
Sinen schmerzte stark der Kopf, Nonnens
Paukenwirbel, die abergläubische Sorge aus Sa-
turn, der Mißmut, am schönen Tag einsam zu
sitzen, der Verdruß über das unfertige Meid —
alles ärgerte sie und sie verwies die in der Liebe
unentwickelte Arbeiterin mit sachlicher Kühle:
— „Das ist das Asketische: ich darf nicht dick
werden. Der Bunte kann die dicken Weiber nicht
ausstehen, das weißt du auch, Nonne. Sie sind
temperamentslos, unerotisch, ohne Leidenschaft,
die dicken Puten sind immer gleich alle, hach!
„Ich trage jetzt ein neues Korsett, das den
Busen wegschnürt und die Hüften bis zum Ober-
schenkel herab in schlanke Form preßt. Ich
dachte schon, wie ich das Fleischige, das formlos
hinten herabhängt und in den engen Röcken nur
stört, fortbringe. Am Besten wäre ein Netz am
Korsett
„Und dann habe ich zu kurze und dicke
Beine. Alüe Frauen haben zu kurze Beine, des-
halb wirken wir immer dick. Da wäre ein Streek-
Apparat nötig. Wenn meine Beine nur zwei Zen-
timeter länger würden, so machte das viel aus."
Sine plapperte, Nonne hatte sich auf die Truhe
gehockt, sie eulenspiegelte mit entzückenden
Flämmchen zu Melusinen: „Wieviel Apparate
tragen Sie schon auf dem Leib? Rückenhalter,
Hüftkorsett, Streckapparat, jetzt den hinteren
Halter! All das dem Bunten zu Liebe. Lassen
Sie ihn doch endlich laufen. Wegen seiner Sehn-
sucht nach Sechzehnjährigen gehen Sie in kurzen
Röcken?"
Sine nahm beleidigt das grüne Tuch und ging
zur Tür, indem sie im engen Kleid von jesuitischer
Magerkeit ein schwarzes Ausrufungszeichen durch
die Spalte schrieb. Hinter dem köstlichen Aus-
rufungszeichen feixte Nonne und lachte.
Sine ging ins Schlafzimmer der Kinder, wo
die Nervös-Ungeduldige es garnicht rasch genug
mit ihrer Näherei treiben wird, um Nonne für die
Anprobe zu rufen.
— „Nönnchen, kommste mal?" Als Nonne ein-
trat, zog Sine den Fenstervorhang zu und begann
rasch sich ganz zu entkleiden.
— „Mein Bunter sieht mich immer nackt,
brauchste dich nicht schämen. Wenn ich das Kleid
auf dem nackten Leib anprobe, sehe ich, ob es noch
zu weit ist; wenn es auf der Haut glatt anhegt,
ist es richtig. Zieh nur auch deine Unterröcke aus.
Mit nem Trikot unter siehste gleich jung und
schön aus." Sine lief nackt zum Spiegel, um die
Linie des Haars zu prüfen. Ihre Leibesgestalt er-
stand, ais sie den Zwangsapparat für Busen und
Hüfte abgelegt hatte, in Fülle und Anmut der frau-
lichen Glieder, schön, licht, dreissigjährig, von
Schnürapparaten weder asketisch, noch sechzehn-
jährig entstellt. Lütbesblicke durften auf ihrem
unversehrten Busen ruhen, Küsse die Lenden und
den weißen Libellenrücken der Frau berühren, die
natürlichen, einzig liebenswerten Unvollkommen-
heiten waren ihr wie jedem weiblichen Geiäß der
Menschheit zu eigen.
Sine hatte nicht geritten, kein Ruderboot ge-
meistert, kein Segel gesetzt, um vorm Sturm zu
kreuzen. Sie hatte im Wettlauf oder Spiel nicht die
Muskeln gestählt, nicht den Leib biegsam und seh-
nig, zur schmalen Lanze gefertigt. Sie hatte nie
den Ehrgeiz gekannt, lustreiches Gefäß der Sonne
im Norden zu sein. Sinens geistreiche Blässe,
das Trauernde, Interessante, Schmachtende, wa-
ren anämisch. Sanfte weibliche Fülle, Liebes-
reife verlangten körperliche Ausarbeitung. Aber
Sine blickte geringschätzig auf Turnen oder
körperliche Spiele. Ein Mädchen, das den Winter
hindurch in den Havelbergen rodelte, war stumpf-
sinnig. Sine kannte immer nur eine Sorge in ihren
Jungmädchen-Jahren, ihre gesunden, gottschönen
Glieder asketisch zu zwängen, geistreich und inter-
essant zu sein. Sie legte sich tagelang mit eroti-
schen Romanen aus aller Welt zu Bett, um ihre
Schönheit nachzugeistigen.
Esther des Orients nahm Harfe und Tanz-
becken in schwingende Hände, mit geschmeidigen
Beduinengliedern tanzte sie nervig, an ihr freuten
sich Fürsten und Krieger. Sine besuchte den Hyp-
notiseur, da sie an nervösen Schwächungen litt
Sine ließ sich stets gern bewundern, und war
Niemand dafür da, nicht einmal Nonne, so be-
wunderte sie sich allein vor lauter Langeweile
und unterhielt sich mit ihrer seidigen Nacktheit.
„Sie finden sich wohl sehr schön" machte
Nonne vor der langweiligen Sine. Und Sinens eben
noch leere, rund hervorquellende Augen wurden
55
abzumachen.
Es biieb unaufgeklärt, ob Sine in der Verwir-
rung ihrer Sinne die Versprechungen des Vaters
vernahm. Geistesabwesend hatten sich ihre Augen
geöffnet. „VeriaBt mich nun AHe!" Das arme
Kind ahnte garnicht, daß ein tiefbetrübter Vater
an ihrem Bette kniete und auf das erste Zeichen
ihrer kindiichen Liebe wartete. Ais Doiiing end-
lich hinausging und die Tür hinter sich schioß, lag
sie im tiefen Schlaf. Er weinte.
Sine schüef ihren gesunden Jungmädchenschiaf
nach der Liebesnacht, der Salmiaktrinkerei und
dem Kampf gegen den Arzt. Gegen Mittag betrat
Seidenfaden das Heim. Frau Gabrieia eilte so-
gleich zu Seidenfaden und berichtete Sinens ver-
eitelten Selbstmord. Der Bräutigam stand auf
der Altane und erhielt den schrecklichen Stoß
mitten in seinen Sommernachtstraum.
Seine Bücher, die er im Arm trug, stürzte er
plumps zu Boden, schlug die Musiktasche drauf,
warf den Magier-Spitzhut fort und stieg gebückt
zur Halle hinab, wo er auf der Bank am Eingang
Elend ertrug. Er stützte die Wange mit der Hand,
vornübergesenkten Hauptes, hängender Locken,
und Gabriela hörte ihn flüstern: „Das haben sie
dir getan!" Er durfte nicht zu Sinen, Sine litt
und wäre lieber gestorben.
Nach Seidenfaden kehrte Frau Dolling zurück,
sie schritt verächtlich an Sinens Bräutigam vor-
bei und vernahm von Frau Gabrielen die Neuig-
keit des vereitelten Selbstmordes mit ungeheuchel-
tem Gleichmut. Sie ließ sich nicht herbei, das
Zimmer der Stieftochter aufzusuchen.
Kurz vorm Essen ging Vater Doiiing zu seiner
Tochter. Sine erhob sich und warf sich weinend
an seine gerührte Brust. Dolling schwur ewige
Vaterliebe.
Seidenfaden wurde als Schwiegersohn „gedul-
det". Sinen legte die Schwere ihres „Selbstmordes"
ein Vorsichts-Anstands-Krankenbett von vierzehn
Tagen auf.
111
Sine hatte die Füße aufs niedre Fensterbrett
gestemmt, ihr jungenshaft schlanker Rücken war
vorgebeugt, und sie nähte emsig und gewandt den
schönen seegrünen Tuchstoff, der über ihrem
Knie in schimmernden Falten lag. Morgen leuch-
tete in das ebenerdige Eckzimmer durch seine
breiten Fenster, in das Spielzimmer der Kinder,
aus dem sie bei den Schularbeiten die ruhige Vor-
ortsstraße auf die flachen Hände nahmen.
Hell und still war es Morgens für Melusine
und Nonne, um zu nähen, um Geheimnisse} zu
haben und Rat miteinander zu tauschen. Ein
lustiger Fries bunter Tiergestalten, von Jagd-,
Tanz- und Festaufzügen unter tropischen Bäumen
wandelte zur Kinderfreude rund die Wände ab.
Weiß mit rotem Rand waren Vorhänge und
Wäsche, rot bemalt auf weißem Grund Truhen
und Türen, einen roten Rand hatte die Zimmer-
decke und rote Fensterkreuze standen vor der
gemächlichen Straße.
Nonne sang droben im Haus. Ihre Mädchen-
lieder stiegen frei in den blausten Tag, sie brachte
die Stuben in Ordnung mit den geschwinden
Händen, Vorhänge gingen auseinander, anspruchs-
voll sich brüstende Möbel rückten karg zusam-
men, Teppiche rollten) zum bedeutungslosen Bün-
del. ln der Oktoberkühle waren Fenster und Tür
weitoffen für den wenigen Sonnenschein des
letzten Herbstes.
Venus leuchtete nicht im Tag, Jupiter war
stumm, Saturn drohte Melusinen mit Zahl und
Schrift. Das englische Horoskop hatte Sine vor
diesem Tag gewarnt. Vor Denen, die ihr heute
Unglück bringen konnten, hielt sie sich versteckt,
sie vermied Unterschrift und Geldzahlung, sie
schwänzte gar das Aktzeichnen in der Malklasse.
Sinch-ens langes faltiges Fräuleins-Gesicht war
welk und grau, es blieb puderfrei an diesem
Sorgetag, das Unheil zu bannen:
„Der Urd Riegel sollen dich allseits wahren!"
Abends, wenn Sterne scheinen, wird Sine sich
ins süße Leben wieder hineinwagen.
Nonne im Arbeitskleid leuchtete mit blauen
Augen, ihr Lied war Geläut der Pförtnerglocke
zum Kloster, es hatte milden Ton und tröstete Zu-
fluchtheischende wachen Traumes. Der Brief-
träger schellte, der Monteur sah die Lichtleitung
nach, es stand ihm der Sinn nach Gespräch von
der Leiter herab mit Nonne, kleine Kinder auf
der Treppe wollten guten Tag gesagt haben, eine
Nachbarin wollte getröstet sein. Nonnens last-
barer Rücken trug die Mühe der mühlos Vorüber-
gehenden, das Verderbliche der achtlos Befehlen-
den. Wer anders wohl als nur sie mußte die Ar-
beit tun, die allgegenwärtige. Würde, sicherten
Trost barg Nonne, und ihre Augen hehlten nie
Denen, die ihr vertrauten. Mutter in ihrer natür-
lichen Bereitschaft, spielte sie mit Kindern ihr mär-
chenschlichtes Leben.
Melusine harrte argwöhnisch in der Mitte ihres
Spinngewebs, zitternd vor der gemeinen Berüh-
rung. Als Nonne ins Zimmer zu ihr trat, besann
sich Sine, daß von Nonne keinesfalls böser Ein-
fluß drohte. Sine hatte das Haar gelöst, schönes,
echtes, dunkles Haar, aber rot gefärbt. Sie hob
die Lider von zwei schönen, runden und leeren
Augen; das Liderheben tat sie mit der Schwere,
die aus dem Wissen der Frau verdichtet war, im
Paradiese der Anbetung zu ruhen.
— „Ist das Kleid noch immer nicht fertig?
Warum haben Sie es wieder aufgetrennt? Es saß
sehr gut, als die Schneiderin es brachte —", rief
Nonne und beugte sich über Sinens Schulter, um
das seegrüne Kleid zu beschauen, welches Sine
zum dritten Male auftrennte und wieder zusam-
menfügte. Es war immer noch zu wenig knapp um
den Busen, zu wenig schmal und kurz um Hüfte
und Beine.
— „Heut solls fertig werden. Du hilfst beim
Anproben, Nönnchen! Ich muß immer scheen
schlank for meinen Bunten sein", berlinerte sie.
„Wenn ich nicht mehr schlank bin, nimmt er ne
Sechzehnjährige".
Nonne lachte, schob stürmisch eine Truhe an
der Wand, als wirbelte eine Pauke:
„Quatsch, Sie sind mit dem Bunten jetzt zehn
Jahre zusammen, da kann er nicht verlangen, daß
Sie ein kleines Mädchen ohne Busen und Hüften
mimen."
Sinen schmerzte stark der Kopf, Nonnens
Paukenwirbel, die abergläubische Sorge aus Sa-
turn, der Mißmut, am schönen Tag einsam zu
sitzen, der Verdruß über das unfertige Meid —
alles ärgerte sie und sie verwies die in der Liebe
unentwickelte Arbeiterin mit sachlicher Kühle:
— „Das ist das Asketische: ich darf nicht dick
werden. Der Bunte kann die dicken Weiber nicht
ausstehen, das weißt du auch, Nonne. Sie sind
temperamentslos, unerotisch, ohne Leidenschaft,
die dicken Puten sind immer gleich alle, hach!
„Ich trage jetzt ein neues Korsett, das den
Busen wegschnürt und die Hüften bis zum Ober-
schenkel herab in schlanke Form preßt. Ich
dachte schon, wie ich das Fleischige, das formlos
hinten herabhängt und in den engen Röcken nur
stört, fortbringe. Am Besten wäre ein Netz am
Korsett
„Und dann habe ich zu kurze und dicke
Beine. Alüe Frauen haben zu kurze Beine, des-
halb wirken wir immer dick. Da wäre ein Streek-
Apparat nötig. Wenn meine Beine nur zwei Zen-
timeter länger würden, so machte das viel aus."
Sine plapperte, Nonne hatte sich auf die Truhe
gehockt, sie eulenspiegelte mit entzückenden
Flämmchen zu Melusinen: „Wieviel Apparate
tragen Sie schon auf dem Leib? Rückenhalter,
Hüftkorsett, Streckapparat, jetzt den hinteren
Halter! All das dem Bunten zu Liebe. Lassen
Sie ihn doch endlich laufen. Wegen seiner Sehn-
sucht nach Sechzehnjährigen gehen Sie in kurzen
Röcken?"
Sine nahm beleidigt das grüne Tuch und ging
zur Tür, indem sie im engen Kleid von jesuitischer
Magerkeit ein schwarzes Ausrufungszeichen durch
die Spalte schrieb. Hinter dem köstlichen Aus-
rufungszeichen feixte Nonne und lachte.
Sine ging ins Schlafzimmer der Kinder, wo
die Nervös-Ungeduldige es garnicht rasch genug
mit ihrer Näherei treiben wird, um Nonne für die
Anprobe zu rufen.
— „Nönnchen, kommste mal?" Als Nonne ein-
trat, zog Sine den Fenstervorhang zu und begann
rasch sich ganz zu entkleiden.
— „Mein Bunter sieht mich immer nackt,
brauchste dich nicht schämen. Wenn ich das Kleid
auf dem nackten Leib anprobe, sehe ich, ob es noch
zu weit ist; wenn es auf der Haut glatt anhegt,
ist es richtig. Zieh nur auch deine Unterröcke aus.
Mit nem Trikot unter siehste gleich jung und
schön aus." Sine lief nackt zum Spiegel, um die
Linie des Haars zu prüfen. Ihre Leibesgestalt er-
stand, ais sie den Zwangsapparat für Busen und
Hüfte abgelegt hatte, in Fülle und Anmut der frau-
lichen Glieder, schön, licht, dreissigjährig, von
Schnürapparaten weder asketisch, noch sechzehn-
jährig entstellt. Lütbesblicke durften auf ihrem
unversehrten Busen ruhen, Küsse die Lenden und
den weißen Libellenrücken der Frau berühren, die
natürlichen, einzig liebenswerten Unvollkommen-
heiten waren ihr wie jedem weiblichen Geiäß der
Menschheit zu eigen.
Sine hatte nicht geritten, kein Ruderboot ge-
meistert, kein Segel gesetzt, um vorm Sturm zu
kreuzen. Sie hatte im Wettlauf oder Spiel nicht die
Muskeln gestählt, nicht den Leib biegsam und seh-
nig, zur schmalen Lanze gefertigt. Sie hatte nie
den Ehrgeiz gekannt, lustreiches Gefäß der Sonne
im Norden zu sein. Sinens geistreiche Blässe,
das Trauernde, Interessante, Schmachtende, wa-
ren anämisch. Sanfte weibliche Fülle, Liebes-
reife verlangten körperliche Ausarbeitung. Aber
Sine blickte geringschätzig auf Turnen oder
körperliche Spiele. Ein Mädchen, das den Winter
hindurch in den Havelbergen rodelte, war stumpf-
sinnig. Sine kannte immer nur eine Sorge in ihren
Jungmädchen-Jahren, ihre gesunden, gottschönen
Glieder asketisch zu zwängen, geistreich und inter-
essant zu sein. Sie legte sich tagelang mit eroti-
schen Romanen aus aller Welt zu Bett, um ihre
Schönheit nachzugeistigen.
Esther des Orients nahm Harfe und Tanz-
becken in schwingende Hände, mit geschmeidigen
Beduinengliedern tanzte sie nervig, an ihr freuten
sich Fürsten und Krieger. Sine besuchte den Hyp-
notiseur, da sie an nervösen Schwächungen litt
Sine ließ sich stets gern bewundern, und war
Niemand dafür da, nicht einmal Nonne, so be-
wunderte sie sich allein vor lauter Langeweile
und unterhielt sich mit ihrer seidigen Nacktheit.
„Sie finden sich wohl sehr schön" machte
Nonne vor der langweiligen Sine. Und Sinens eben
noch leere, rund hervorquellende Augen wurden
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