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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Fünftes Heft (August 1916)
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Knoblauch, Adolf: Seidenfaden, [1]: Erzählung
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Heynicke, Kurt: Gesang
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0063

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sorgend scharf und schwarz. Sie erinnerte sich
ihres bösen Tags im Horoskop und iegte sich den
schimmernden Tuchstoff über den nackten Leib,
hastete mit der Anprobe.
Das Kleid war nicht zu brauchen und es wurde
für die Kinder verarbeitet.
IV
Seidenfaden keimte heim von Sine.
In der kiihien Oktobernacht leuchtete der weiße
Dampfbaüen des davonfahrenden Zuges. Die
Ahornbäume an der einsamen Strasse waren noch
dichtbeiaubt, spärlich standen einzelne Qasiaternen
im Schatten. Die Straße führte zwischen Bahn-
damm und Kiefernwatd. kein Haus lag an ihr, kein
Mensch kam Seidenfaden in der späten Nacht-
stunde entgegen.
Die scharfen Schatten der Ahornbiätter waren
unruhig und sie veränderten ständig die weißen
Lichtfiecke auf der Straße, iang und dünn und
stachlig von vielen feinen nervös zitternden
Spitzen. Seidenfaden schritt langsam im tiefen
Schatten der alten Bäume, bog sich manchmal
nieder zur Hocke und sammelte den Dung von
der Straße in eine spitze Tiite. Die Lichtflecke
blinzelten verschmitzt, Hie scharfen Ahornschatten
stachen zierlich mit den Spitzen auf Seidenfaden
ein. Aber er hob nicht das Gesicht, eilends ver-
tieft in sein nächtlich fruchtverheißendes Geschäft.
Er bog in den Weg zwischen Hecken und hielt
bei der letzten Gaslaterne still. Im Schatten seines
Magierspitzhuts stand er klein, dürr, schwarz, in
Kniehosen. Unter dem breiten Hutrand hing langes
Haar um sein bleiches Gesicht.
Behend, leise machte er sich fort in die Finster-
nis, sein Kücken krümmte sich zum Katerbuckel.
* K
In Seidenfadens weitabgewandter Bodenstube
brannte allnächtlich bis zum Morgen die Lampe,
ihr trübes Licht glomm im Giebel des Landhauses
durch die Kiefernwipfel bis zum Frühzug. Bei
seinem Köllen auf dem Gleis entkleidete er sich
vor dem Buch, das er las.
Er las das Aegypter-Evangelium: Als
Jesus eine Andeutung über das Weitende machte,
fragte Salome: ,.Wie lange werden Menschen
sterben?" Der Herr antwortete mit gutem Be-
dacht: „Solange Weiber gebären". Auf diese Ant-
wort fragte Salome, die von einer falschen Auf-
fassung der Zeugung ausging: Ob sie also besser
daran getan hätte, keine Kinder zu gebären!
Worauf der Herr erwiderte: „Iß jede Pflanze, nur
die Bittere iß nicht!" Die Jüngerin fragte weitere
Fragen aus geschlechtlicher Neugier, denn Jiinger-
innen fragen immer. Und der Herr tat ein
Uebriges, um alle Fragen zu beantworten.
Sie fragte, wann das geschehen würde, wo-
nach sie fragte. „Wann Ihr die Hülle der
Scham mit Füßen tretet, und wann zweie
Eines werden, das Männliche mit dem Weib-
lichen weder Männliches noch Weibliches."
Der Herr fügte das Uebrige hinzu, indem er von
sich selbst sprach: „Ich bin gekommen, um die
Werke des Weibes zu vernichten, ihre Werke Ge-
burt und Tod!"
Schönling Seidenfaden, der ruhelos erotisch
Neugierige, stand vor dem Berggipfel und sah
seine roten Zinnen, getrennt von ihnen durch den
tausendjährigen Abgrund. Aber Sinens fleisch-
liches Verlangen war Seidenfadens reizender
Stachel, der blühende Querbalken am Kreuz seiner
Passion, seines Schmachtens, unmöglich war es,
Sine auszutilgen, das wußte er mit entsagendem
Lächeln: dies Fleisch war unvergänglich, unaus-
löschlich.

Seidenfaden liebte es, sich im Schwarm eroti-
scher Vorstellungen zu bewegen, um Gedanken
haben zu können. Er hatte ein übersinnliches
Heiraten von Seidenfaden und Sine, von Ich und
Ding ersonnen und den gnostischen Syzygien
nachgeahmt. Er haßte die geheimnisvolle Häß-
lichkeit und das verborgen Schmutzige des Ge-
schlechts. er verabscheute es, aber zugleich ver-
gnügte es ihn literarisch. Dickwerden der frucht-
baren Mutter, Schwangerschaft, das Kind im
Bauch, überhaupt volle und gesunde Fleischesblüte
von Mädchen und Frauen belustigten ihn, das
nannte er „ihre Werke Geburt und Tod ver-
nichten".
Die Steintreppe zum Bahnsteig eilte Seiden-
faden hinauf, ein Betrunkener taumelte vor ihm
auf den Stufen. Er sah das gefährliche Schwanken
des Trunkenen, als wollte er hintiiber stürzen. Im
Nu, behend, elegant war Seidenfaden im Bogen
entgegengesetzt ausgewichen. Aus Abscheu vor
dem häßlichen Betrunkenen war er ausgewichen.
Seidenfaden mied das Häßliche, denn er hatte
Angst davor.
Die Dunkelheit hatte sich nach Mitternacht ent-
wölkt, die Sterne waren am Himmel erschienen.
Als Seidenfaden die Lampe löschte und sich zu
Bett legte, leuchtete der Mond weiß in die Boden-
stube.
Nachdem er den ganzen Abend im warmen
Luststrom von Sinens Zärtlichkeiten gebadet
hatte, war er in die eiskalte Halle des Aegypter-
Evangeliums getreten. Um Mitternacht hatte er
sich an einem Koman aus dem Jahre der eroti-
schen Klubs in Kußland fiebrig erregt zu Bett ge-
legt. Das bleiche Mondlicht beschien sein bart-
umwuchertes Jesusgesicht. Seidenfaden träumte.
Auf der anderen Seite des Erdballs erstand er
tatenreich.
Vom Hotelbalkon schaute er hinab auf Tanger
in der afrikanischen Nacht. Märchenvogel Rok
breitete seine riesigen Fittiche über die schim-
mernden Stufen flacher mohammedanischer
Dächer. Aus dem Meer war die Nacht von ihren
Felsen heraufgestiegen mit breiten weichen
Füßen und hatte ihr Gesicht, das der Tar-
busch verhüllte, über die Balkonbrüstung nahe an
Seidenfaden gedrängt. An ihren weichen Füßen
und Händen bebten wollüstig edle Ringe und
Steine, die Nacht des Orients war zu Seiden-
faden ins Zimmer gestiegen, um ihren Liebsten
zu prüfen, ehe sie ihn mit sich in die zerschellende
Tiefe zog.
Hilflos schrie Seidenfaden auf unter ihrem
herzbangen Kusse, wankte zu Sine und klam-
merte sich an . . . Seidenfaden erhob im
Mondlicht der Bodenstube das fahle Ange-
sicht und hustete schwindsüchtigen Husten aus
dürrer Brust in die Nachtkälte. Er starrte auf die
mondweiße Wand. Auf das Rechteck von hart
weißem Mondschein, das die Stube und seinen
schmutzigen Hausrat in blau mineralische Formen,
in ein vom Mondkrater abgestürztes Stück metalli-
scher Kruste umwandelte. Sinens Herbststrauß in
der beschädigten Waschkanne war der ver-
steinerte Skelettrest eines urweltlichen Kriech-
tiers. Der mystische Tiermensch der Assyrer,
halb Löwe, halb bärtiger Krieger schritt quer durch
das dreidimensionale weiße Mondeck. Seine bar-
barische Tatze fetzte die Lieblings-Erotika Seiden-
fadens. Wild straffte Seidenfaden den magren
Leib, als ier seine Manuskripte gefährdet sah, aber
der finstre Assyrer lächelte geheimnisvoll und
drückte seine Tatze fest auf Seidenfadens arme
Brust. Dann schritt er fort durch die Oeffnung
des Mondecks in der Mauer, die sich hinter Ihm
schloß.

Seideufaden im Bett aufgerichtet, den Rücken
furchtsam an die Wand gedrückt, erblickte die
steife Rücklehne des Stuhles. Vom vielen Stuben-
hocken hing das Rohrgeflecht des Sitzes zer-
brochen herab und bauschte sich wie der Schweif
des assyrischen Löwen.
Seidenfaden stand aufgeregt auf, wickelte sich
in eine große Flanelldecke und trat ans Fenster.
Zarte milchige Helligkeit tränkte die Nacht. Die
Schriftzeichen der nordischen Sterne glühten in
der kalten Herbststrenge. Der Wald ruhte im
< Schlaf, drei hohe Birken erhoben ihr feines
Gezweig reglos in silberne Himmelsnähe und
schatteten in die Gestirne. Kein Vogel war wach,
noch war nicht Morgen.
Seidenfaden sah scharf hinaus. Die Herrlich-
keit, welche der Schöpfer wohl ermessen hat,
fühlte Seidenfaden wie einen weichen Flanell-
mantel seine Glieder hüllen, und er sprach zu
sich selbst milden Fliisterns: „Ich glaubte immer
an ein Paradies". Eine Reihe Tomaten hatte er
zum Nachreifen in der Sonne auf dem Fensterbrett
liegen. Er nahm eine in die Hand und liebkoste
sie. Die Entferntheit aller Schmerzen, der Schlaf
über aller Notdurft und Häßlichkeit, des Mond-
scheins mineralische Regungslosigkeit, die senk-
rechte Konstante der Birken, die wüstenhafte
Ruhe, so träumte das bedrängte Israel seit zwei-
tausend Jahren und flüsterte: „Ich glaubte immer
an ein Paradies!"
Seidenfaden legte die Tomate wieder aufs
Brett, im offnen Fenster floß eisiger Tauhauch
an seine unverhüllte Brust. Er hustete und
legte sich endlich übernächtigt ins Bett zurück,
mit dem Wunsch zu schlafen.
Seidenfaden schlief und ihm tränmte abermals:
Aus des Hausabgrundes Finsternis, aus den
Rattenlöchern des Kellers, unter den Stiegen, den
Dielenbohlen, aus den Ecken des Dachbodens, aus
der Tiefe und Höhe wurden plumpe Kugeln gegen
seine Stubenwand gewälzt und sie brach ein. Die
Kugeln rollten in seine Stube, zu seinem Bett, und
entsetzt erblickte er unzählige Köpfe: dicke,
magere, blasse, blaue, grüne, ausgekerbte, schlei-
mige, runde wie große Käse, welche ohne Kinn,
ohne Ohren, ohne Stirn, alle hatten phosphorne
Augen, welche krochen wie Käfer, welche kleb-
ten wie Schmeißfliegen, welche, huschten, flacker-
ten, froren . . . Alle diese rumpflosen, selbstbe-
wußten Köpfe stellten sich rufend aufeinander und
bauten um Seidenfaden eine schauerliche Wand
von schreienden Schädeln. Die Wand stürmte
Hohn, spie tote Stücke von Körpern, Rümpfen,
Gliedern, die heulende Wand stürzte auf den ge-
ängstigten Seidenfaden und steinigte ihn. In der
Frühe erwachte er fiebrig und zerquält.
Gesang
Wir sind ein Samenkorn
unendliche Hände schenken uns fremdem Boden.
Kinder der Sonne sind wir
Licht küßt üns zum Frühling empor.
Nächte tauen uns silbrig zum Knospen
Stumm trinken wir Sterne und Monde.
Des Windes Gespiel ist unser schwankes Leben,
der Wind ist Fruchtbereiter dem Herbste.
Regen beugt uns furchtsam zu Boden
Keusch im Regenbogen blicken wir aufwärts
zu Gott.
Fremde Sichel singt in der Sonne:
Vom Nirgends gegeben
von der Welt gediehen
iruchtschwer ins Namenlose geschritten.

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