Die mit schmaler Kinderhand ihr Kind jetzt
wiegen
Und sich frühe verschiiessen, weh geknickte
bestaubte Biumen
Weinet
Beweinet auch die vieien traurigen kranziosen
Bräute
Deren trauriges Haupt kein Schieier bedecken
wird
Und die in ihren Fenstern auf den toten
Bräutigam warten
Weinet
Beweinet die Wittwen aiie
Weil ihr dünner Schleier welkt und traurig weht
Und sie gehn wie ein Zug von Nonnen und in
den bieichen Händen
Biasst das Wachslicht der Erinnerung und tränt
ohne Unteriaß
Weinet
Weinet denn viele schöne und aite Kirchen
Und vieie liebe Städte die unseren Herzen
nahe waren
Sind graue Trümmerhaufen geworden
Und auch der liebe Altar in unser aller Herzen
Daß wir Menschen sind — dein Bruder und
mein Bruder —
Weinet
Beweinet die schon sitzen hinter Gartengittern
unter den traurigen Weiden
Mit bleichem erschrockenem Gesicht und sehr
weit von sich selber
Weinet
Weinet denn am Rande der Landstraßen bei
den Grenzsteinen sitzen Kinder
Kleine Kinder in dünnen Tüchlein und friern und
ihre arme Hand preßt ein Bündel
Weinet
Beweinet auch die sanfte kleine Ziege
Die hoch in den Bergen vor Schreck ein Zicklein
gebar mit zwei Köpfen
Weinet
Weinet denn wenn der Zug der Verstümmelten
käme
Nie würde er enden und bedeckten sie nicht
die verstümmelten Glieder
Wer von uns fände noch Schlaf —
W einet
Weinet denn keine Leinwand ist so lang und
so breit ist nicht eine Leinwand
Daß sie bedecken könnte alle die Wunden
Und die viele weiße und milde Leinwand geht
aus in der Welt
Weinet
Weinet denn auf den weichen grünen Feldern
Stehn mehr der Kreuze als in den Friedhöfen
stehen
Weinet
Weinet denn ferne ist der gute Hirte gezogen
Und der böse Krieg wütet in seiner armen
einfältigen Herde
Weinet
Weinet denn man läßt die Lebenden nicht mehr
leben
Und voll sind alle Friedhöfe und die Spitäler
sind voll
Weinet
Weinet denn wenn diese Zeiten vergangen sind
Dann grast das schwache Lämmlein: der Friede
In rotem Grase nur
(Nur rotes schlechtes Gras wächst für das arme
unschuldige)
Weinet
Weinet .
Seidenfaden
Erzählung
Adolf Knoblauch
V
Die Eigentümerin des Landhauses hatte ausge-
macht, daß jeden Morgen das Stubenmädchen
Seidenfadens Bodenkammer ausfegen und auf-
räumen sollte. Obgleich das übertriebene Reini-
gungsbedürfnis der deutschen Frauen ihm nie
Freude machte, hatte er das Opfer bringen müs-
sen. Um zehn Uhr spätestens mußte er das Bett
verlassen.
Tiefmüd, unwirsch, machte er sich daran, nach
der fiebrigen Nacht den Tag zu ertragen. Er schob
frierend das spitze Kinn in den aufgeklappten
Kragen der Jacke und eilte durch den rohen eis-
kalten Dachboden mit nasser Wäsche, die auf den
Leinen hing, zur finstren Stiege.
An der Straße nahe dem Bahndamm lag sein
Garten, in dem er eifrig landwirtschaftliche Kul-
tur und Wissenschaft trieb. Die kreuzgestellten
Bohnenstangen ragten hager und har, dj;e ,To-
matenstauden, von denen er mehrere Ernten roter
italienischer Liebesäpfel gewonnen hatte, waren
schwarze, vom Frost verkohlte Leichen. Die
Erdbeerbeete waren dürr und verwirrt, die
Fruchtsträucher kahl und wild. Im Oktober
kamen nur noch Endivien und Grünkohl fort, sie
zu jauchen und nachzusehen galt Seidenfadens all-
morgendlich erster Gang.
Er hatte sich das Jahr über redlich geplagt,
Schweiß und Geld hatte sein Gärtchen schon ge-
kostet. Er hatte einen Dunghaufen angelegt, und
reichlich dazu selbst mit dem Schubkarren ange-
fahren. Seine nächtlichen Tüten mit konzentrier-
tem Stickstoff entleerte er auf diesen Haufen.
Aber er hoffte, im kommenden Jahre die Ueppig-
keit intensiver Kultur als Erfolg seines Ehrgeizes
und seiner wissenschaftlichen Methode erleben zu
dürfen. Das ganze Jahr hindurch würde er Sinen
die selbstgezogenen Bodenprodukte darreichen
können und Sine würde sie heimlich verkaufen an
Vater Dolling und ihre Mutter: Seidenfadens
Salatköpfe, Gemüse, Erdbeeren, Kartoffeln, Boh-
nen und Erbsen, Maiskolben, Topinambur, To-
maten, Johannis- und Himbeeren, Rot- und Weiß-
kohl.
Als Seidenfaden den Schwengel der Jauch-
pumpe mit hartem Geklapper bewegte, um die
Grünkohlkultur zu düngen, kam um die Ecke aus
dem Nachbargarten der alte Herr Schneekamp,
der die Auseinandersetzungen mit dem „Herrn
Professor" liebte über den Unterschied von wis-
senschaftlicher und praktischer Gartenpflege.
„Guten Morgen, Herr Nachbar." „Guten Morgen,
Herr Professor!" „Immer feste bei der Arbeit?
Nu ist aber das Jahr bald rum!" Und Herr Schnee-
kamp fügte mitleidig hinzu: „Jauchen Sie man
nicht zuviel auf den Kohl los, Herr Professor. Der
wird Ihnen sonst madig!"
Ein langer Redestreit erhob sich über den
Widerspruch zwischen Professorenwissen und
Landwirtpraxis. Mit weit ausladendem Arm-
schwenken wehrte Herr Schneekamp ab und
focht gegen Seidenfadens Wissenschaft. Das sei
Windbeutelei und für Leute, die mal sone Lieb-
haberei hätten.
Herr Schneekamp hatte drei Töchter, von
denen Seidenfaden behauptete, sie sähen aus als
wüßten sie nicht, was ein Mann sei. Er nannte sie
seine drei Milchbrödchen, alle waren blond, rot-
bäckig, blauäugig. Sie verehrten heimlich Seiden-
faden, aber machten sich über seine Braut lustig.
Sie kamen hinausgelaufen und betrachteten von
fern Sine, wenn sie vor den Beeten sich zierte
und ihr blauer Böcklein-Schleier über des Bunten
Buckel wehte, denn er bemühte sich um den
Endivien. Dann ahmten die drei Schneekamps von
fern der Braut nach und lachten, wie das Milch-*
brödchen nun einmal eigen ist. Sine war tief be-
leidigt.
Auf die kalte Nacht war ein heißer Herbsttag
gefolgt. Nach vielen Stunden Gartenarbeit lief
Seidenfaden hungrig mit Gemüse beladen wieder
zu seiner Stube hinauf. Er bereitete sich Thee
und ein Häufchen zarter Brödchen zum Frühstück,
tat einen Blick in die aufgeschlagenen Bücher von
vergangener Nacht und beeilte sich, einige frische
Zeilen 'den verstaubten, seit einem Jahr in Ar-
beit befindlichen Manuskripten hinzuzufügen.
Dies Manuskript war das entscheidende Werk
gewesen, welches er sich verpflichtet fühlte, her-
vorzubringen. Im Winter des vorigen Jahres hatte
er sich nach Carrara an der italienischen Küste
begeben, um an dem geweihten Orte Michelange-
los seine Philosophie zu erzeugen. Seine philo-
sophische Zeugungskraft hatte arg gelitten, seine
Nerven waren geschwächt, sein Geblüt war zer-
streut und verdünnt, seine Liebe zur Weisheit ver-
dunkelt durch den Anblick schmaler Hüften und
sechzehnjähriger Beine 'von großberliner Frauen
und kleinen Mädchen. Bangend, unaufhörlich,
immer frisch wurde Seidenfaden von Liebe ange-
griffen zu jeder Sechzehnjährigen, jeder Schnek-
kenfrisur, jeder schmalen Schulter, jedem zier-
lichen Knie, zu allem, was kurzröckig und sichtbar
auf zwei schönen Beinen vor ihm herwandelte.
Er behauptete steif, daß ständig weibliche Kniee
an die seinen stießen, weibliche Füße die seinen
traten und seine Schienbeine streiften. Seiden-
faden glaubte beständig 'durch die erotischen Eise,
Stürme und Feuer der Großberlinerinnen „auf-
ringen" zu müssen. Seine erotischen Schwächun-
gen hatten einen so bedenklichen Grad erreicht,
daß er sich für das berlinentlegene Carrara ent-
schloß, um an der meergegürteten Küste jene
schöneren Gürtel zu vergessen, die den Unglück-
lichen soweit gebracht hatten, daß er schließlich
ein Werk der Weisheit überwindend erzeugen
konnte. Bei einer sommerlichen Nachkur am
Gardasee schrieb er den Schluß zu seinem Werk
und kehrte mit Sinen, die er beim Herniederstieg
vom Sinai Carraras zu sich hatte reisen lassen,
stolz zurück: Im schweigenden Glanze des voll-
brachten Werks, gebräunt von der scharfen Sonne
im Süden der Alpen.
Int der Pracht seiner schwarzen Lohemgrin-
Locken, im Brennen seiner Philosophie, jung doch
hoheitsvoll, war er in den Kreis der Freunde zu-
rückgekehrt. Als er zum ersten Mal wieder unter
ihnen weilte, hatte er mit Sine eine Zeitlang die
Augen tief ineinander versenkt scheinbar weltver-
gessen gestanden. Dann hatte er langsam beide
Hände zu Sinens jungfräulichem Schläfen erhoben,
ihr feines Haupt sich zugeneigt und ihren Scheitel
an seinen Mund zum Kuß gelegt. Die Freunde
schauten zu, entzüdkt von der traditionellen Ge-
berde der englischen Präraffaeliten, die in Seiden-
fadens Kreise heimisch war. Sie bemerkten, daß
der Bunte an diesem hochzeitlichen Tage die
Schönheit Raffaels mit der Weisheit Spinozas ver-
einigte, und daß er Seele habe eben weil er schön
war.
Er hatte zu diesem Tage Sinen eine lange, lila
seidenbandumwickelte Papierrolle als Geschenk
seiner Heimkehr von starken Wegen überreicht.
Es war eine Komposition zu Ehren Sinens zu
einem Sonett von Michelangelo. Nachdem er
Sinens Scheitel vor den Freunden geküßt hatte,
stimmte er, indem er Sinen bei beiden Händen
69
wiegen
Und sich frühe verschiiessen, weh geknickte
bestaubte Biumen
Weinet
Beweinet auch die vieien traurigen kranziosen
Bräute
Deren trauriges Haupt kein Schieier bedecken
wird
Und die in ihren Fenstern auf den toten
Bräutigam warten
Weinet
Beweinet die Wittwen aiie
Weil ihr dünner Schleier welkt und traurig weht
Und sie gehn wie ein Zug von Nonnen und in
den bieichen Händen
Biasst das Wachslicht der Erinnerung und tränt
ohne Unteriaß
Weinet
Weinet denn viele schöne und aite Kirchen
Und vieie liebe Städte die unseren Herzen
nahe waren
Sind graue Trümmerhaufen geworden
Und auch der liebe Altar in unser aller Herzen
Daß wir Menschen sind — dein Bruder und
mein Bruder —
Weinet
Beweinet die schon sitzen hinter Gartengittern
unter den traurigen Weiden
Mit bleichem erschrockenem Gesicht und sehr
weit von sich selber
Weinet
Weinet denn am Rande der Landstraßen bei
den Grenzsteinen sitzen Kinder
Kleine Kinder in dünnen Tüchlein und friern und
ihre arme Hand preßt ein Bündel
Weinet
Beweinet auch die sanfte kleine Ziege
Die hoch in den Bergen vor Schreck ein Zicklein
gebar mit zwei Köpfen
Weinet
Weinet denn wenn der Zug der Verstümmelten
käme
Nie würde er enden und bedeckten sie nicht
die verstümmelten Glieder
Wer von uns fände noch Schlaf —
W einet
Weinet denn keine Leinwand ist so lang und
so breit ist nicht eine Leinwand
Daß sie bedecken könnte alle die Wunden
Und die viele weiße und milde Leinwand geht
aus in der Welt
Weinet
Weinet denn auf den weichen grünen Feldern
Stehn mehr der Kreuze als in den Friedhöfen
stehen
Weinet
Weinet denn ferne ist der gute Hirte gezogen
Und der böse Krieg wütet in seiner armen
einfältigen Herde
Weinet
Weinet denn man läßt die Lebenden nicht mehr
leben
Und voll sind alle Friedhöfe und die Spitäler
sind voll
Weinet
Weinet denn wenn diese Zeiten vergangen sind
Dann grast das schwache Lämmlein: der Friede
In rotem Grase nur
(Nur rotes schlechtes Gras wächst für das arme
unschuldige)
Weinet
Weinet .
Seidenfaden
Erzählung
Adolf Knoblauch
V
Die Eigentümerin des Landhauses hatte ausge-
macht, daß jeden Morgen das Stubenmädchen
Seidenfadens Bodenkammer ausfegen und auf-
räumen sollte. Obgleich das übertriebene Reini-
gungsbedürfnis der deutschen Frauen ihm nie
Freude machte, hatte er das Opfer bringen müs-
sen. Um zehn Uhr spätestens mußte er das Bett
verlassen.
Tiefmüd, unwirsch, machte er sich daran, nach
der fiebrigen Nacht den Tag zu ertragen. Er schob
frierend das spitze Kinn in den aufgeklappten
Kragen der Jacke und eilte durch den rohen eis-
kalten Dachboden mit nasser Wäsche, die auf den
Leinen hing, zur finstren Stiege.
An der Straße nahe dem Bahndamm lag sein
Garten, in dem er eifrig landwirtschaftliche Kul-
tur und Wissenschaft trieb. Die kreuzgestellten
Bohnenstangen ragten hager und har, dj;e ,To-
matenstauden, von denen er mehrere Ernten roter
italienischer Liebesäpfel gewonnen hatte, waren
schwarze, vom Frost verkohlte Leichen. Die
Erdbeerbeete waren dürr und verwirrt, die
Fruchtsträucher kahl und wild. Im Oktober
kamen nur noch Endivien und Grünkohl fort, sie
zu jauchen und nachzusehen galt Seidenfadens all-
morgendlich erster Gang.
Er hatte sich das Jahr über redlich geplagt,
Schweiß und Geld hatte sein Gärtchen schon ge-
kostet. Er hatte einen Dunghaufen angelegt, und
reichlich dazu selbst mit dem Schubkarren ange-
fahren. Seine nächtlichen Tüten mit konzentrier-
tem Stickstoff entleerte er auf diesen Haufen.
Aber er hoffte, im kommenden Jahre die Ueppig-
keit intensiver Kultur als Erfolg seines Ehrgeizes
und seiner wissenschaftlichen Methode erleben zu
dürfen. Das ganze Jahr hindurch würde er Sinen
die selbstgezogenen Bodenprodukte darreichen
können und Sine würde sie heimlich verkaufen an
Vater Dolling und ihre Mutter: Seidenfadens
Salatköpfe, Gemüse, Erdbeeren, Kartoffeln, Boh-
nen und Erbsen, Maiskolben, Topinambur, To-
maten, Johannis- und Himbeeren, Rot- und Weiß-
kohl.
Als Seidenfaden den Schwengel der Jauch-
pumpe mit hartem Geklapper bewegte, um die
Grünkohlkultur zu düngen, kam um die Ecke aus
dem Nachbargarten der alte Herr Schneekamp,
der die Auseinandersetzungen mit dem „Herrn
Professor" liebte über den Unterschied von wis-
senschaftlicher und praktischer Gartenpflege.
„Guten Morgen, Herr Nachbar." „Guten Morgen,
Herr Professor!" „Immer feste bei der Arbeit?
Nu ist aber das Jahr bald rum!" Und Herr Schnee-
kamp fügte mitleidig hinzu: „Jauchen Sie man
nicht zuviel auf den Kohl los, Herr Professor. Der
wird Ihnen sonst madig!"
Ein langer Redestreit erhob sich über den
Widerspruch zwischen Professorenwissen und
Landwirtpraxis. Mit weit ausladendem Arm-
schwenken wehrte Herr Schneekamp ab und
focht gegen Seidenfadens Wissenschaft. Das sei
Windbeutelei und für Leute, die mal sone Lieb-
haberei hätten.
Herr Schneekamp hatte drei Töchter, von
denen Seidenfaden behauptete, sie sähen aus als
wüßten sie nicht, was ein Mann sei. Er nannte sie
seine drei Milchbrödchen, alle waren blond, rot-
bäckig, blauäugig. Sie verehrten heimlich Seiden-
faden, aber machten sich über seine Braut lustig.
Sie kamen hinausgelaufen und betrachteten von
fern Sine, wenn sie vor den Beeten sich zierte
und ihr blauer Böcklein-Schleier über des Bunten
Buckel wehte, denn er bemühte sich um den
Endivien. Dann ahmten die drei Schneekamps von
fern der Braut nach und lachten, wie das Milch-*
brödchen nun einmal eigen ist. Sine war tief be-
leidigt.
Auf die kalte Nacht war ein heißer Herbsttag
gefolgt. Nach vielen Stunden Gartenarbeit lief
Seidenfaden hungrig mit Gemüse beladen wieder
zu seiner Stube hinauf. Er bereitete sich Thee
und ein Häufchen zarter Brödchen zum Frühstück,
tat einen Blick in die aufgeschlagenen Bücher von
vergangener Nacht und beeilte sich, einige frische
Zeilen 'den verstaubten, seit einem Jahr in Ar-
beit befindlichen Manuskripten hinzuzufügen.
Dies Manuskript war das entscheidende Werk
gewesen, welches er sich verpflichtet fühlte, her-
vorzubringen. Im Winter des vorigen Jahres hatte
er sich nach Carrara an der italienischen Küste
begeben, um an dem geweihten Orte Michelange-
los seine Philosophie zu erzeugen. Seine philo-
sophische Zeugungskraft hatte arg gelitten, seine
Nerven waren geschwächt, sein Geblüt war zer-
streut und verdünnt, seine Liebe zur Weisheit ver-
dunkelt durch den Anblick schmaler Hüften und
sechzehnjähriger Beine 'von großberliner Frauen
und kleinen Mädchen. Bangend, unaufhörlich,
immer frisch wurde Seidenfaden von Liebe ange-
griffen zu jeder Sechzehnjährigen, jeder Schnek-
kenfrisur, jeder schmalen Schulter, jedem zier-
lichen Knie, zu allem, was kurzröckig und sichtbar
auf zwei schönen Beinen vor ihm herwandelte.
Er behauptete steif, daß ständig weibliche Kniee
an die seinen stießen, weibliche Füße die seinen
traten und seine Schienbeine streiften. Seiden-
faden glaubte beständig 'durch die erotischen Eise,
Stürme und Feuer der Großberlinerinnen „auf-
ringen" zu müssen. Seine erotischen Schwächun-
gen hatten einen so bedenklichen Grad erreicht,
daß er sich für das berlinentlegene Carrara ent-
schloß, um an der meergegürteten Küste jene
schöneren Gürtel zu vergessen, die den Unglück-
lichen soweit gebracht hatten, daß er schließlich
ein Werk der Weisheit überwindend erzeugen
konnte. Bei einer sommerlichen Nachkur am
Gardasee schrieb er den Schluß zu seinem Werk
und kehrte mit Sinen, die er beim Herniederstieg
vom Sinai Carraras zu sich hatte reisen lassen,
stolz zurück: Im schweigenden Glanze des voll-
brachten Werks, gebräunt von der scharfen Sonne
im Süden der Alpen.
Int der Pracht seiner schwarzen Lohemgrin-
Locken, im Brennen seiner Philosophie, jung doch
hoheitsvoll, war er in den Kreis der Freunde zu-
rückgekehrt. Als er zum ersten Mal wieder unter
ihnen weilte, hatte er mit Sine eine Zeitlang die
Augen tief ineinander versenkt scheinbar weltver-
gessen gestanden. Dann hatte er langsam beide
Hände zu Sinens jungfräulichem Schläfen erhoben,
ihr feines Haupt sich zugeneigt und ihren Scheitel
an seinen Mund zum Kuß gelegt. Die Freunde
schauten zu, entzüdkt von der traditionellen Ge-
berde der englischen Präraffaeliten, die in Seiden-
fadens Kreise heimisch war. Sie bemerkten, daß
der Bunte an diesem hochzeitlichen Tage die
Schönheit Raffaels mit der Weisheit Spinozas ver-
einigte, und daß er Seele habe eben weil er schön
war.
Er hatte zu diesem Tage Sinen eine lange, lila
seidenbandumwickelte Papierrolle als Geschenk
seiner Heimkehr von starken Wegen überreicht.
Es war eine Komposition zu Ehren Sinens zu
einem Sonett von Michelangelo. Nachdem er
Sinens Scheitel vor den Freunden geküßt hatte,
stimmte er, indem er Sinen bei beiden Händen
69