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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Achtes Heft (November 1916)
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Kokoschka, Bohuslav: Ein Vorfall
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0092

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Ein Vorfall
Bohusiav Kokoschka
Mit Zeichnungen von Oskar Kokoschka
Die Möwen stürzen weiß vor dem gelben Fen-
ster, lassen sich treiben von dem böigen Wind,
der vom Meer her auf die lockeren Scheiben zu-
springt.
Ein Gewirr von Lauten, wie eine Gesellschaft
kleiner Bodentürchen verrosteter Angel, hoch im
Winde in der Nacht.
Hinter dem gelben Fenster steht der kleine
Breitschultrige. Blaß. Mit eingefallenen Wangen.
Die schwarzen Augen in den kleinen, dunklen
Grotten verraten, daß das Fieber ihn hat; er
raucht billigste Zigaretten, Zeige- und Mittelfinger
sind braun von Nikotin.
Er steht hinter dem kleinen, gelben Fenster und
denkt. Die weißen Möwenbäuche sind plötzlich
nicht mehr da..!
Vor einem anderen gelben oder rosa Fenster
stürzen sie, sind wieder einmal draußen über
ihrem Meer.
Er dreht seinen Kopf hinter der Scheibe, drückt
seine Nase daran platt, aber nichts sieht er von
ihnen.

Und die Möwen jetzt plötzlich nicht mehr da
sind, was gestern Abends geschehen war, erinnert
er sich. Er denkt schon den ganzen Tag und bis
zum frühesten Morgen war es die Nacht, die da-
mit verging.
Er legt sich auf das wackelige Sofa. Ein bil-
liger weißer Fenster-Vorhang statt des Über-
zuges. Die Uhr zeigt sechs.
Mit dem Fuß hält er den Pendel auf. Weil er
so stupide hin und her schwingt. Blond war sie
wie eine Butterblume... So ziemt es den Hilde-
garden.
Daß sie sich auch nicht mehr rettete, ging er
ihr nach. Und da spricht sie ihn an, Hi'ldegarde ...
Es regnet fein, zwischen den Regen strahlt die
Sonne ... „Sie müssen mir nicht immer nachlaufen,
Sie!"
Die kleinen Nasenlöcher ziehen die Moosluft
ein. Er steht vor ihr und lächelt, sein Lächeln
starrt auf den Lippen. Die Hände auf dem Rücken,
sagt er: Ihre Haare sind blond wie ihre Sommer-
sprossen; und seine Augen werden viel größer.
Sie macht einen Schritt zurück, ratlos vor Wut;
und den einzigen, möglichen Weg geht er ihr vor!
Langsam, die Hände auf dem Rücken.
Wind hebt sich auf und türmt über die Bäume,
er pfeift leise.

Hildegarde, sieht sie den kleinen, breiten Mann
vor sich, langsam geht er, die Hände auf dem
Rücken, schreit sie: Ruhe will ich haben vor Ihnen,
hören Sie das, Sie!?
Sie hebt die Hände vors Gesicht und schluchzt.
Er geht ruhig seinen Weg, die Hände auf dem
Rücken. Hilda geht und immer schneller den Weg
bergab. Sie kommt ins Laufen, sie wankt,
strauchelt ihr Fuß an den Steinen und sie fällt
ins Gebüsch. Der Mond steigt herauf.
Er krallt über sie, sie regt sich nicht. Und da
regt sich der Mond auch nicht...
Ein Hildaruf in den Bergen... Und draußen
lacht das Meer.
Die feinen Regen, zu fein sind sie und können
ihm nichts anhaben, dem Meer. Und es lacht.
Er läßt auf sich rieseln vom Regen und Hilda
über den Leib. Er liegt hin in einem schwarzen
Kleide... Und so ist sie zu liegen gekommen, daß
es sich straff spannt.
Der Hut hat sich aus den Haaren gelöst, er
liegt unter dem Kopf am Boden und unter einem
Wust von blonden Flechten. Da sind die Möwen
wieder da und schwärmen vor dem gelben Fen-
ster und er sieht die Sonne. Und daß sie ein
großes Stück gesunken ist.

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