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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Sechstes Heft (September 1916)
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Walden, Herwarth: Ruf an August Stramm: Rede zum ersten Sturm-Kunstabend in der Kunstausstellung Der Sturm am ersten September 1916
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Baum, Peter: Kyland
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0068

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Ruf an August Stramm
Rede zum ersten Sturm-Kunstabend in der Kunstausstellung
Der Sturm am ersten September )916
Die Sporen klirrten und seine Stimme jubelte
durch diese! Räume, die uns die Weit deuten.
Aus diesen Räumen wuchs der Hall seines Jubels
in den Raum, über den Raum hinaus, in die Zeit
über die Zeit hinaus. Tränen kreist der Raum.
Das ist die Menschheit. Die Sporen fielen ab auf
russischer Erde. Ein deutscher Hauptmann liegt
unter ihr. Die Kunst macht ihm, macht uns die
Erde leicht. Der Jubel hallt über Deutschland
hinaus, über die Erde hinaus, über das Ende
hinaus. Ueber den Anfang hinaus in das Reich des
Unerreichbaren, das uns in die Ewigkeit führt.
Die Kunst ist unmenschlich. Darum wollen ihr
alle Menschen opfern. Aber solange die Men-
sehen ihr sich nicht selbst opfern, ist die Kunst
in Rauch gehüllt. Solange sehen die Menschen
das Feuer nicht, das wärmt, das glüht, das leuch-
tet. Und das verbrennt, wenn man an es greift.
Die Menschen wundern sich nur über das, was
nicht geschieht. Das Geschehen wird bewiesen.
Die Sonne scheint, denn es ist bewiesen. Die
Erde dreht sich, denn es ist bewiesen. Der Mensch
wird geboren, denn es ist bewiesen. Aber der
Mensch wird nicht gestorben, was zu beweisen
wäre. Der Mensch stirbt einfach. Und das ist
den Menschen ein Wunder. Der Mensch stirbt
einfach und stirbt milliardenfach. Die Unruhe
hastet über die Erde, über die Ruhe des Ein-
fachen. Es ist nichts zu beweisen. Die Münder
suchen ihn. Die Blicke suchen ihn. Die Gedanken
suchen ihn. Er wird nicht gefunden. Aber im
wachen Schlaf, im schlafenden Wachen steht er
bei uns, vor uns, über uns, er, der starb. Wir
küssen ihn, wir drücken ihn, wir sehen ihn. Doch
wenn wir an ihn denken, verläßt er unser Ge-
dächtnis. Das Gedächtnis verläßt uns im Wunder.
Das Gedächtnis ist Nachfeier. Feier ist das
Wunder. Man soll das Wunder feiern.
So einfach, wie der Mensch stirbt, so einfach
lebt die Kunst. Denn die Kunst wird nicht ge-
schaffen, die Knnst schafft. Sie trägt den Künst-
ler, der sie trägt. Kunst lebt den Künstler, der
ihr stirbt. Sie trägt den Tragenden durch das
Getragene.
Darum soll man das Wunder feiern.
Wir klagen und weinen um Dich, August
Stramm. Um Dich, den Menschen und Freund. Um
Dich, also um uns. Da wir nicht sehen können,
daß Du nun hörst, was Du hörtest. Aber
Du hörst es. Gerade deshalb hörst Du es, weil
wir es mit unsern blinden Augen nicht sehen
können. Du hörst !es und wir! können ^es be-
weisen. Beweisen mit ihrem Wissen. Denn sie
wissen, daß die Sonne leuchtet, auch wenn sie
sie nicht sehen. Sie wissen es, weil sie es gelernt
haben. Und wenn sie es nicht gelernt hätten,
dennoch leuchtet die Sonne in ihre Nacht.
Die Kunstgeschichte ist feige. Nach dem Tod
des Künstlers stürzt sie auf ihn und stellt fest,
wie er gelebt hat. Wo er gelebt hat. Wovon er
gelebt hat. Daß er gelebt hat, kann die Kunst-
geschichte erst durch den Tod des Künstlers fest-
stellen. Die Kunstgeschichte sammelt Daten. Die
Daten des äußeren Lebens. Das innere Leben
sammelt der Künstler selbst. Die Kunstgeschichte
hat kein Recht darauf. Es ist gesammelt.
Die Kunstgeschichte wird feststellen, daß August
Stramm kein Berufsdichter war. Kein Kaufmann
also, der Offenbarungen Anderer auswählt: die
Offenbarung wählt sich den Künstler, der nicht
mit ihr rechnet, also niemals einen Berufsdichter.
Die Kunstgeschichte wird die Daten des äußeren

Lebens nüchtern finden. Denn die Kunstgeschichte
ist romantisch. Der Künstler ist es nicht. Die
Kunstgeschichte wird feststellen, daß August
Stramm am neunundzwanzigsten Juli 1874 zu
Münster in Westfalen geboren wurde, als Sohn
des Obertelegraphenrevisors Albert Stramm. Sie
wird feststellen, daß August Stramm das Gym-
nasium in Eupen und Aachen besucht hat. Daß
er auf Wunsch des Vaters seinen Beruf bei der
Post suchte, die üblichen Studien hierzu machte,
nebenbei auf die Universität ging und in Halle
zum Doktor der Philosophie promoviert wurde.
Die Kunstgeschichte wird weiter feststellen, daß
er nach Zeugnis seiner Vorgesetzten ein sehr
tüchtiger und fähiger Beamter gewesen ist, es bis
zum Kaiserlichen Postinspektor brachte, und daß
er im Jahre 1914 in das Reichspostamt berufen
wurde. Die Kunstgeschichte wird ferner feststel-
len, daß er nach Zeugnis seiner Vorgesetzten ein
hervorragender Soldat und Offizier gewesen ist
und bereits im Jahre 1913 zum Hauptmann der
Reserve befördert wurde. Die Kunstgeschichte
wird feststellen, daß er bei Ausbruch des
Krieges in das Landwehrregiment 110 als Kom-
pagnieführer versetzt wurde, die Gefechte in den
Vogesen und im Ober-Els^aß mitmachte, im
Januar 1915 in ein neues, junges Regiment als
Kompagniechef berufen wurde, daß er mit diesem
Regiment an die Front nach Frankreich kam und
dort das Eiserne Kreuz erwarb. Sie wird ferner
feststellen, daß er mit seiner Kompagnie die große
Durchbruchsschlacht von Gorlizce mitmachte und
den ganzen Feldzug in Galizien. Daß er als Ba-
taillonsführer insbesondere bei der Erstürmung des
Dorfes Ostrow Außerordentliches an Tapferkeit und
Ueberlegung leistete, hierfür das oesterreichische
Verdienstkreuz mit der Kriegsdekoration erhielt
und zum Eisernen Kreuz Erster Klasse eingegeben
wurde. Daß er am ersten September 1915 als
letzter Ueberlebender seiner Kompagnie bei einem
Sturmangriff in den Rokitnosümpfen fiel, nachdem
er über siebzig Schlachten mitgemacht hatte. Ein
Kopfschuß tötete ihn sofort. Am zweiten Septem-
b'er morgens wurde er auf dem jüdischen Friedhof
bei Horodec mit militärischen Ehren bestattet.
Vermählt hatte sich August Stramm 1902 mit der
Schriftstellerin Else Krafft. Seine beiden Kinder
heißen Hellmuth und Inge.
Die Kunstgeschichte wird ferner feststel-
len, daß August Stramm sehr viel ge-
schrieben hat und zwar von frühester Jugend
an. Daß ihm kein Werk genügte, daß er
jedes Werk dreißig Mal, fünfzig Mal, hundert Mal
niederschrieb und wiederschrieb und daß es ihm
nicht genügte. Daß er seine Werke Verlegern und
Zeitschriften anbot, als sie ihm genügten. Und daß
Verleger und Zeitschriften ihm die Werke zu-
rückschickten. Daß er hoffnungslos wurde. Daß
er an seiner Künstlerschaft verzweifelte. Daß er
glaubte, er sei verrückt, während sich doch nur
die andern nicht verrücken lassen. Weil die andern
nämlich nicht wurzeln, sondern sich haben
festmauern lassen. Um nicht umzufallen. Um
sich stehend zu fühlen, wo doch nur der
steht, der fallen kann. Die Kunstgeschichte wird
vielleicht nicht feststellen, daß August Stramm im
Jahre 1913 dem Sturm eine Dichtung einreichte.
Es sollte der letzte Versuch sein, den er mit
seinen Dichtungen unternahm, bevor er sie
alle im Fall der Ablehnung vernichten wollte.
Die Dichtung hieß Sancta Susanna und wurde an-
genommen; was weiter folgte, könnte die Kunst-
geschichte der Zeitschrift Der Sturm entnehmen.
Eine weitere Hilfe lehnen die Zeitschrift Der Sturm
und die Kunst der Kunstgeschichte ab. Denn die
Kunst lebt über die Geschichte.

Wir klagen und weinen um Dich, August
Stramm. Um Dich, den Menschen und Freund.
Aber wir jubeln mit dem Jubel Deiner Stimme
Dir zu, August Stramm, Dir dem Künstler.
Wir feiern das Wunder.
Wir glauben an das Wunder. Denn wir wissen,
daß es das Wunder gibt, weil wir es glauben.
Wir sind das Meer, wir Nehmenden. Wir strah-
len alle Farben im Spiel der Sonne. Froh
leuchten wir blau und grün, nach ihrem Willen.
Und wir stürmen nur, wenn Wind und Wolken
uns die Sonne rauben, unser Spiel und unsern
Glanz der Farben.
Wir sind das Meer, wir Nehmenden. Die
andern sehen vom Strand mit scharfen Gläsern
die Wand, den Horizont. Wir aber fliessen vor
und hinter dem Horizont und um ihn. Unser
Gesichtskreis ist ein Kreis. Und ein Kreis der
Gesichte.
Tauchen wir unter, damit wir zur Feier ge-
rüstet sind. Damit wir ruhig und offen liegen,
eine Fläche, bereit zu spiegeln. Daß wir leuch-
ten in Deinen Farben. Daß wir erzittern in Deinem
Rauschen.
Daß wir Dich Hörenden hören, August Stramm.
Herwarth Waiden

Kyland
Peter Baum
I
Das Gemach, in dem er am Leibe der Mutter
zu ihr aufwuchs, war so niedrig, daß der Vater
dort nur geneigten Hauptes stand. So verfloch-
ten ihn die Augen des Knaben in die leuchtenden
Webereien an den Wänden und sahen ihn als
Gott; bald stand er vor ihm im Gemach, bald sah
er ihn über einen Baum, dessen Wipfel sich schon
zur menschlichen Stirn rundete, aufglättete, über
einen Stein, dessen Bart sproßte, auch über eine
Quelle die Hand legen. Langsam schwebte sie
den aufsteigenden Fingern mit zu ihm hoch-
steigenden Brüsten nach.
Das Gemach grenzte an die grünen Säulen des
Hofes, der blau überwölbt war über dem Fallen
des Brunnens. Im flüssigen Tönen bewegten sich
für den Knaben die Figuren an den Wänden. An
der einen Wand waren sich weitende Segel auf
rückwärtsrollenden Wellen, die dem Gemache
Raum gaben, ebenso wie an der linken Wand die
durch die Luft sich überschlagenden Leiber. Der
eine oder der andere sank schon geschmeidig mit
den Schenkeln über die Rücken sich bäumender
Pferde. Er mochte seither bis ins Alter mit In-
brust diesen Laut des Wassers; vielleicht keimte
seltsamer Weise daraus auch seine Liebe zu
seinen regungslosen Flächen und den sturm-
tragenden Wellen.
Aus dem von der Ampel überglommenen Ge-
mach trat der Knabe Plao in die Säulen des Hofes,
den die Gemächer umgaben, und durch ein nied-
riges Tor nur an etwas größerer Hand seiner
Mutter in die geordnete Wildnis des Gartens. Die
Wege entlang schweiften die Schlinggewebe und
Kelche hebenden Bäume zur schwindelnden Höhe.
Plaos Vater war ein Enkel des letzten Königs
von Kyland. Am Jahrestage seiner Ermordung
wurde das große Fest der Befreiung des Vater-
landes gefeiert, an dem man sein Rundbild be-
kränzte, es die Gesänge der Dichter vor der
Menge umjubelten und umklagten.
Sein Verhängnis war, daß seine Eitelkeit ihn
trieb, seine Schriften in der Volksschrift zu schrei-
ben und durch seine fleissigen Schreiber ver-

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