Im Fegefeuer des
Krieges
Franz Mare
Was wir Krieger in diesen Afonaten draußen
erleben, überragt in weitem Bogen unsere Denk-
kraft. Wir werden Jahre brauchen, bis wir diesen
sagenhaften Krieg als Tat, als unser Erlebnis
werden begreifen können.
Vielleicht schürfen die in der Heimat Verbliebe-
nen schon ein paar Schichten tiefer in seinen Ge-
heimnissen. Wir, die wir draußen sind, immer Er-
wartungen und Befehle im Kopf, unermüdlich rei-
ten und marschieren, um dann ein paar Stunden
zu schlafen wie die Bären — wir können nicht
denken. Wir können nur primitiv erleben; unser
Bewußtsein schwankt oft zwischen zwei Fragen:
Ist dieses tolle Kriegerleben nur ein Traum, oder
sind unsere Heimatgedanken, die uns manchmal
streifen, der Traum? Eher scheint beides ein
Traum zu sein, als beides wahr.
Wir liegen an einem Waldrand mit unseren Mu-
nitionswagen; gewitterartig rollt der Kanonen-
donner am ganzen Horizont. Ueberall die kleinen
Sprengwölkcken; beides gehört schon zur Land-
schaft, wie auch das Echo, das jeden Schuß ver-
doppelt weiterträgt. Plötzlich ein Surren, das in
einem ungeheuren Bogen über uns weggeht, un-
gleich, in steten Schwingungen, übergehend von
hellem Pfeifen in tiefes Brummen; wie der hohe,
weite Schrei des Raubvogels, immer kurz hinter-
einander, mit dem Eigensinn des Tieres, das keinen
anderen Ruf kennt. Dann in der Ferne ein dump-
fer Knall. Fs sind schwere, feindliche Artillerie-
geschosse, die über uns wegrasen, nach einem uns
unbekannten Ziel. Ein Schuß zieht den anderen
nach. Der Himmel steht im reinsten Herbstblau,
und doch fühlen wir die hohen Rinnen, in denen
die Geschosse ihn durchstürmen.
Der Artilleriekampf hat selbst für den Artille-
risten oft etwas Mystisches, Mythisches. Wir sind
Kinder zweier Weltalter. Wir Menschen des
zwanzigsten Jahrhunderts erfahren täglich, daß alle
Sage, alle Mystik, aller Okkultismus einmal Wahr-
heit wird, also auch einmal Wahrheit gewesen ist.
Was Homer von dem unsichtbaren, donnergrol-
lenden Zeus singt, dem fernhintreffenden, und von
Alars mit seinen unsichtbaren Pfeilen, wir haben
es zu Wahrheit gemacht. Und doch schützt uns
alles Wissen nicht vor dem mystischen Schauer.
Man sagt uns, daß das nahe Städtchen vom
Feind in Brand geschossen wird, also liegen wir
wohlgeborgen unter dem Zenith der großen Ge-
schoßkurve. Wir bleiben die Nacht in Stellung;
das Sausen tönt über uns lautsingend durch die
klare Nacht. Wir schlafen in unsere Mäntel ge-
hüllt. Die Pferde senken die Köpfe und ruhen im
müden Stehen.
Nun ist ein jeder für sich und kann träumen,
denken, wenn ihm der Schlaf die Gedanken nicht
abreißt.
In einer kleiner Ecke unseres Bewußtseins
grübeln wir vielleicht noch zwischen Wachen und
Schlafen:
Kaum war ein großer Krieg weniger Rassen-
krieg als dieser. Wo ist heute die germanische
Rasse? Hat dieses Wort je ein größeres Fiasko
erlebt? Man wird sich endgültig daran gewöhnen,
anstatt „germanisch" das Wort „deutsch" zu
setzen; dafür wird der deutsche Adler auch ein
paar wuchtige Krallen mehr in sein Wappen be-
kommen; den neuen deutschen Adler möchte ich
gern zeichnen, wenn dieser Krieg einmal vor-
bei ist.
Ja, wenn der Krieg einmal vorbei ist, was wird
dann in Deutschland?
Wird es neben dem politischen Deutschland
auch ein künstlerisches geben?
Wir haben in den letzten Jahren vieles in der
Kunst und im Leben für morsch und abgetan er-
klärt und auf neue Dinge gewiesen.
Niemand wollte sie.
Wir wußten nicht, daß so rasend schnell der
große Krieg kommen würde, der über alle Worte
weg selbst das Morsphe zerbricht, das Faulende
ausstößt und das Kommende zur Gegenwart
macht
Durch diesen großen Krieg wird mit vielem
anderen, das sich zu Unrecht in unser zwanzigstes
Jahrhundert hinübergerettet hat, auch die Pseudo-
kunst ihr Ende finden, mit der sich der Deutsche
bislang gutmütig zufrieden gegeben hat.
Der Drang der Deutschen, formbildnerisch
Neues in Musik, Dichtung und Kunst aufzuneh-
men, war in der letzten Generation so gering,
daß man sich die schlechtesten und fadenscheinig-
sten Wiederholungen alter guter Kunstformen ge-
fallen Heß. Das Volk als Ganzes ahnte wohl den
großen Krieg sicherer als der Einzelne und spannte
alle seine Nerven nach ihm.
Kunst in solcher Wartezeit war nicht aktuell,
Kunst als Volkstat unzeitgemäß.
Das deutsche Volk ahnte, daß es erst durch
den großen Krieg gehen mußte, um sich ein neues
Leben und neue Ideale zu formen. Es behielt
recht mit seinem Unwillen, in elfter Stunde neue
Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen
Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht.
Er ist schnell hereingebrochen und hat manche
zarte Saat zerstört.
Ich glaube nicht, daß viel von dem, was wir
neuen Maler in Deutschland an ungewohnten
Kunstformen vor den: Kriege geschaffen haben,
Wurzel fassen konnte. Wir werden von vorn an-
fangen müssen zu arbeiten; erst an uns selber in
der Schule dieses großen Krieges, dann an unse-
rem deutschen Volk. Denn wenn das große Auf-
atmen kommt, wird der Deutsche auch wieder
nach seiner Kunst fragen, ohne die er in
keiner reifen Zeit war.
Er war Bildner in der Gotik, Dichter und Mu-
siker im neunzehnten Jahrhundert und wird
wieder Bildner im zwanzigsten Jahrhundert sein.
Wir Deutsche sind seit der Gotik formbildnerisch
unsagbar arm geworden; wir besorgten anderes
für die Welt; heute besorgen wir das Letzte: diesen
entsetzlichen Krieg. Wer ihn draußen miterlebt
und das neue Leben ahnt, das wir uns mit ihm
erobern, der denkt wohl, daß man den neuen Wein
nicht in alte Schläuche faßt. Wir werden das neue
Jahrhundert mit unserem formbildnerischen Wil-
len durchsetzen.
* *
*
Wie viele Gedanken Christi sind heute noch
ungewußt, ungenutzt, verschwiegen. Jede Zeit
hat ihren Christus, den sie verdient, und nimmt
so viel aus diesem unerschöpften Born, als ihre
Krüge fassen.
Der große Nazarener hat die Gesetze der Natur
intuitiv erfaßt. Seine bilderreiche Sprache hat
neben unserem neuen erkenntnis-theoretischen
Denken ihre Wucht nicht verloren. Seine tiefsten
Gedankein wandeln noch parallel mit unserem
Forschen; wir hören noch immer das Murmeln
dieses lebendigen Quells neben uns.
In so wilden Tagen wie den unseren werden
alle uralte Fragen neu gestellt, manche toten
totgesagten Fragen stehen auf aus ihren Gräbern.
Alle großen Ereignisse der Weltgeschichte sind
große Gerichtstage für die menschliche Erkennt-
nis. Die ehrwürdigsten Meinungen und Glaubens-
sätze werden neu gewogen. Was gestern galt, ist
heute verpaßt und abgetan. Nur die guten Dinge
bleiben, die echten, inhaltsschweren, wahren; sie
gehen geläutert und gestählt durch das Fegefeuer
des Krieges.
Wir Europäer haben in jahrhundertelanger ern-
ster, gemeinsamer Arbeit einen solchen echten -
nach Menschenwissen echten, wahren Schatz ge-
hoben, ein Erbgut, das noch jeden Krieg über-
dauert hat und an dem kein Rost nagt: die „exak-
ten Wissenschaften". Zum ersten und einzigen
Alale ist dem menschlichen Geist das „Absolute"
geglückt: sich ein Reich zu schaffen, das „auch
nicht von dieser Welt" ist und doch alles, was
Welt ist, fühlend und ordnend durchdringt. Die
Wissenschaften kennen keine nationale Schranken,
die Politik hat keinen Raum in ihnen. Alle mo-
dernen Menschen, alle guten Europäer stehen im
Bann und Bunde dieses Reiches.
Wir können es nicht gutheißen, daß dem
Geiste dieses obersten europäischen Gewissens
entgegen einige deutsche Gelehrte mit gutem
Namen etwas unternommen haben, das in
Europa wie ein Signal zum Bannbruch wir-
ken könnte: „sie verzichten in deutschem
Nationalgefühl auf die ihnen durch Auszeichnungen
von englischen Universitäten, Akademien und ge-
lehrten Gesellschaften erwiesenen Ehren und da-
mit verbundenen Rechte". Das ist nicht gut. Hier
wird auf dem freien Forum der Wissenschaft ein
Zaun errichtet; er kann nicht lange stehen; denn
die Wissenschaft ist stärker, eine geistige Macht,
die sich in das Unendliche dehnt; aber der Ver-
such ist eben darum nicht gut, weil er keine Zu-
kunft in sich trägt. Alle nationale Erregung unse-
rer Tage kann ihn nicht rechtfertigen.
Der Feind steht nicht dort, wohin der Pfeil ab-
gesandt wurde. Unser deutscher Kulturgeist und
nationaler Impuls muß in ganz anderer Richtung
aktiv und aggressiv werden.
Soll der Krieg uns das bringen, was wir er-
sehnen und das in einem Verhältnis zu unseren
Opfern steht — der Atem stockt vor dieser
Riesengleichung —, so müssen wir Deutsche nichts
leidenschaftlicher meiden als die Enge des Herzens
und des nationalen Wollens. Sie verdürbe uns
alles. Wer hat, dem wird gegeben. Nur mit dieser
Devise werden wir auch geistig die Sieger bleiben
und die ersten Europäer sein. Der kommende
Typ des Europäers wird der deutsche Typ sein;
aber zuvor muß der Deutsche ein guter Europäer
werden. Das ist er heute nicht immer und
überall.
Geschrieben Herbst 19!4
Auf den Tod von
Franz Marc
Der Atem welkt
Die Stunden gehn gebückt
Blaue Tränen trösten das Leid
Das Wort schreit auf
Die Klage jammert
Stunden bluten hin
sterben
Sophie van Leer
Bilder
Vortrag zur Eröffnung der Sturm - Ausstellung
in Den Hang
Mit dieser Ausstellung wird ein Ueberblick
über die neue Bewegung in den bildenden Künsten
gegeben. Ein Ueberblick, der zugleich das Blick-
feld der Zeitgenossen erweitern wird. Der größte
2
Krieges
Franz Mare
Was wir Krieger in diesen Afonaten draußen
erleben, überragt in weitem Bogen unsere Denk-
kraft. Wir werden Jahre brauchen, bis wir diesen
sagenhaften Krieg als Tat, als unser Erlebnis
werden begreifen können.
Vielleicht schürfen die in der Heimat Verbliebe-
nen schon ein paar Schichten tiefer in seinen Ge-
heimnissen. Wir, die wir draußen sind, immer Er-
wartungen und Befehle im Kopf, unermüdlich rei-
ten und marschieren, um dann ein paar Stunden
zu schlafen wie die Bären — wir können nicht
denken. Wir können nur primitiv erleben; unser
Bewußtsein schwankt oft zwischen zwei Fragen:
Ist dieses tolle Kriegerleben nur ein Traum, oder
sind unsere Heimatgedanken, die uns manchmal
streifen, der Traum? Eher scheint beides ein
Traum zu sein, als beides wahr.
Wir liegen an einem Waldrand mit unseren Mu-
nitionswagen; gewitterartig rollt der Kanonen-
donner am ganzen Horizont. Ueberall die kleinen
Sprengwölkcken; beides gehört schon zur Land-
schaft, wie auch das Echo, das jeden Schuß ver-
doppelt weiterträgt. Plötzlich ein Surren, das in
einem ungeheuren Bogen über uns weggeht, un-
gleich, in steten Schwingungen, übergehend von
hellem Pfeifen in tiefes Brummen; wie der hohe,
weite Schrei des Raubvogels, immer kurz hinter-
einander, mit dem Eigensinn des Tieres, das keinen
anderen Ruf kennt. Dann in der Ferne ein dump-
fer Knall. Fs sind schwere, feindliche Artillerie-
geschosse, die über uns wegrasen, nach einem uns
unbekannten Ziel. Ein Schuß zieht den anderen
nach. Der Himmel steht im reinsten Herbstblau,
und doch fühlen wir die hohen Rinnen, in denen
die Geschosse ihn durchstürmen.
Der Artilleriekampf hat selbst für den Artille-
risten oft etwas Mystisches, Mythisches. Wir sind
Kinder zweier Weltalter. Wir Menschen des
zwanzigsten Jahrhunderts erfahren täglich, daß alle
Sage, alle Mystik, aller Okkultismus einmal Wahr-
heit wird, also auch einmal Wahrheit gewesen ist.
Was Homer von dem unsichtbaren, donnergrol-
lenden Zeus singt, dem fernhintreffenden, und von
Alars mit seinen unsichtbaren Pfeilen, wir haben
es zu Wahrheit gemacht. Und doch schützt uns
alles Wissen nicht vor dem mystischen Schauer.
Man sagt uns, daß das nahe Städtchen vom
Feind in Brand geschossen wird, also liegen wir
wohlgeborgen unter dem Zenith der großen Ge-
schoßkurve. Wir bleiben die Nacht in Stellung;
das Sausen tönt über uns lautsingend durch die
klare Nacht. Wir schlafen in unsere Mäntel ge-
hüllt. Die Pferde senken die Köpfe und ruhen im
müden Stehen.
Nun ist ein jeder für sich und kann träumen,
denken, wenn ihm der Schlaf die Gedanken nicht
abreißt.
In einer kleiner Ecke unseres Bewußtseins
grübeln wir vielleicht noch zwischen Wachen und
Schlafen:
Kaum war ein großer Krieg weniger Rassen-
krieg als dieser. Wo ist heute die germanische
Rasse? Hat dieses Wort je ein größeres Fiasko
erlebt? Man wird sich endgültig daran gewöhnen,
anstatt „germanisch" das Wort „deutsch" zu
setzen; dafür wird der deutsche Adler auch ein
paar wuchtige Krallen mehr in sein Wappen be-
kommen; den neuen deutschen Adler möchte ich
gern zeichnen, wenn dieser Krieg einmal vor-
bei ist.
Ja, wenn der Krieg einmal vorbei ist, was wird
dann in Deutschland?
Wird es neben dem politischen Deutschland
auch ein künstlerisches geben?
Wir haben in den letzten Jahren vieles in der
Kunst und im Leben für morsch und abgetan er-
klärt und auf neue Dinge gewiesen.
Niemand wollte sie.
Wir wußten nicht, daß so rasend schnell der
große Krieg kommen würde, der über alle Worte
weg selbst das Morsphe zerbricht, das Faulende
ausstößt und das Kommende zur Gegenwart
macht
Durch diesen großen Krieg wird mit vielem
anderen, das sich zu Unrecht in unser zwanzigstes
Jahrhundert hinübergerettet hat, auch die Pseudo-
kunst ihr Ende finden, mit der sich der Deutsche
bislang gutmütig zufrieden gegeben hat.
Der Drang der Deutschen, formbildnerisch
Neues in Musik, Dichtung und Kunst aufzuneh-
men, war in der letzten Generation so gering,
daß man sich die schlechtesten und fadenscheinig-
sten Wiederholungen alter guter Kunstformen ge-
fallen Heß. Das Volk als Ganzes ahnte wohl den
großen Krieg sicherer als der Einzelne und spannte
alle seine Nerven nach ihm.
Kunst in solcher Wartezeit war nicht aktuell,
Kunst als Volkstat unzeitgemäß.
Das deutsche Volk ahnte, daß es erst durch
den großen Krieg gehen mußte, um sich ein neues
Leben und neue Ideale zu formen. Es behielt
recht mit seinem Unwillen, in elfter Stunde neue
Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen
Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht.
Er ist schnell hereingebrochen und hat manche
zarte Saat zerstört.
Ich glaube nicht, daß viel von dem, was wir
neuen Maler in Deutschland an ungewohnten
Kunstformen vor den: Kriege geschaffen haben,
Wurzel fassen konnte. Wir werden von vorn an-
fangen müssen zu arbeiten; erst an uns selber in
der Schule dieses großen Krieges, dann an unse-
rem deutschen Volk. Denn wenn das große Auf-
atmen kommt, wird der Deutsche auch wieder
nach seiner Kunst fragen, ohne die er in
keiner reifen Zeit war.
Er war Bildner in der Gotik, Dichter und Mu-
siker im neunzehnten Jahrhundert und wird
wieder Bildner im zwanzigsten Jahrhundert sein.
Wir Deutsche sind seit der Gotik formbildnerisch
unsagbar arm geworden; wir besorgten anderes
für die Welt; heute besorgen wir das Letzte: diesen
entsetzlichen Krieg. Wer ihn draußen miterlebt
und das neue Leben ahnt, das wir uns mit ihm
erobern, der denkt wohl, daß man den neuen Wein
nicht in alte Schläuche faßt. Wir werden das neue
Jahrhundert mit unserem formbildnerischen Wil-
len durchsetzen.
* *
*
Wie viele Gedanken Christi sind heute noch
ungewußt, ungenutzt, verschwiegen. Jede Zeit
hat ihren Christus, den sie verdient, und nimmt
so viel aus diesem unerschöpften Born, als ihre
Krüge fassen.
Der große Nazarener hat die Gesetze der Natur
intuitiv erfaßt. Seine bilderreiche Sprache hat
neben unserem neuen erkenntnis-theoretischen
Denken ihre Wucht nicht verloren. Seine tiefsten
Gedankein wandeln noch parallel mit unserem
Forschen; wir hören noch immer das Murmeln
dieses lebendigen Quells neben uns.
In so wilden Tagen wie den unseren werden
alle uralte Fragen neu gestellt, manche toten
totgesagten Fragen stehen auf aus ihren Gräbern.
Alle großen Ereignisse der Weltgeschichte sind
große Gerichtstage für die menschliche Erkennt-
nis. Die ehrwürdigsten Meinungen und Glaubens-
sätze werden neu gewogen. Was gestern galt, ist
heute verpaßt und abgetan. Nur die guten Dinge
bleiben, die echten, inhaltsschweren, wahren; sie
gehen geläutert und gestählt durch das Fegefeuer
des Krieges.
Wir Europäer haben in jahrhundertelanger ern-
ster, gemeinsamer Arbeit einen solchen echten -
nach Menschenwissen echten, wahren Schatz ge-
hoben, ein Erbgut, das noch jeden Krieg über-
dauert hat und an dem kein Rost nagt: die „exak-
ten Wissenschaften". Zum ersten und einzigen
Alale ist dem menschlichen Geist das „Absolute"
geglückt: sich ein Reich zu schaffen, das „auch
nicht von dieser Welt" ist und doch alles, was
Welt ist, fühlend und ordnend durchdringt. Die
Wissenschaften kennen keine nationale Schranken,
die Politik hat keinen Raum in ihnen. Alle mo-
dernen Menschen, alle guten Europäer stehen im
Bann und Bunde dieses Reiches.
Wir können es nicht gutheißen, daß dem
Geiste dieses obersten europäischen Gewissens
entgegen einige deutsche Gelehrte mit gutem
Namen etwas unternommen haben, das in
Europa wie ein Signal zum Bannbruch wir-
ken könnte: „sie verzichten in deutschem
Nationalgefühl auf die ihnen durch Auszeichnungen
von englischen Universitäten, Akademien und ge-
lehrten Gesellschaften erwiesenen Ehren und da-
mit verbundenen Rechte". Das ist nicht gut. Hier
wird auf dem freien Forum der Wissenschaft ein
Zaun errichtet; er kann nicht lange stehen; denn
die Wissenschaft ist stärker, eine geistige Macht,
die sich in das Unendliche dehnt; aber der Ver-
such ist eben darum nicht gut, weil er keine Zu-
kunft in sich trägt. Alle nationale Erregung unse-
rer Tage kann ihn nicht rechtfertigen.
Der Feind steht nicht dort, wohin der Pfeil ab-
gesandt wurde. Unser deutscher Kulturgeist und
nationaler Impuls muß in ganz anderer Richtung
aktiv und aggressiv werden.
Soll der Krieg uns das bringen, was wir er-
sehnen und das in einem Verhältnis zu unseren
Opfern steht — der Atem stockt vor dieser
Riesengleichung —, so müssen wir Deutsche nichts
leidenschaftlicher meiden als die Enge des Herzens
und des nationalen Wollens. Sie verdürbe uns
alles. Wer hat, dem wird gegeben. Nur mit dieser
Devise werden wir auch geistig die Sieger bleiben
und die ersten Europäer sein. Der kommende
Typ des Europäers wird der deutsche Typ sein;
aber zuvor muß der Deutsche ein guter Europäer
werden. Das ist er heute nicht immer und
überall.
Geschrieben Herbst 19!4
Auf den Tod von
Franz Marc
Der Atem welkt
Die Stunden gehn gebückt
Blaue Tränen trösten das Leid
Das Wort schreit auf
Die Klage jammert
Stunden bluten hin
sterben
Sophie van Leer
Bilder
Vortrag zur Eröffnung der Sturm - Ausstellung
in Den Hang
Mit dieser Ausstellung wird ein Ueberblick
über die neue Bewegung in den bildenden Künsten
gegeben. Ein Ueberblick, der zugleich das Blick-
feld der Zeitgenossen erweitern wird. Der größte
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