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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Sechstes Heft (September 1916)
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Knoblauch, Adolf: Seidenfaden, [2]: Erzählung
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Walden, Herwarth: Umberto Boccioni
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0076

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gefaßt hie!t, mit lispelnder Stimme den ersten Vers
der neuen Komposition an:
Der goldne Kranz sieh, wie er voll* Entzücken
das blonde Haar mit Blüten rings umfängt.
Er sang von der Blume, die Sinens Stirn küßte,
vom Gewand, das sich um Sinens Schultern schloß,
vom Haar, das ihre Wangen gern berührte, vom
engen seidnen Band, das beglückt war, Sinens
Busen zu berühren:
Der Gürtel spricht: laß mich die Lust genießen,
daß ewig meine Haft dies so entspannt —
wie würden da erst Arme dich umschließen.
VI
Siderius, Seidenfadens Freund von der Schul-
bank auf, hatte den fressenden Ehrgeiz, ein eige-
nes philosophisches System zu erfinden, ein eige-
nes Buch zu veröffentlichen. Seit zehn Jahren
hatte er sich vergeblich angestrengt. Zehn Jahre
lang hatten die Freunde Einander jeden neuen Ge-
danken beifalls- und eindruckssüchtig mitgeteilt.
Wer wollte dann, wenn Siderius sowie Seiden-
faden Jeder seine Philosophie der Welt vorlegten,
entscheiden, ob Siderius oder Seidenfaden der Ur-
sprünglichere, Frühere war, wessen Gedanken
eigene waren und wessen die des Anderen.
Das Unglück des Siderius erreichte die Höhe,
als der flinke, unbedenklichere Seidenfaden plötz-
lich aus der italienischen Kräftigungskur mit einem
umfangreichen Manuskript heimkehrte, und der
ganze Kreis Kota vor Seidenfaden machte.
Seidenfaden hatte in seinem hochfliegenden
Schwünge den Neid des überflügelten Konkur-
renten kaum beachtet. Sine hatte die schönen
Arme um sein Angesicht gelegt, sodaß er die Welt
vergaß.
Siderius begann in aller Stille und Eile mir
konzentriertem, noch nie an ihm bemerktem Fleiß
ein philosophisches Manuskript zu verfassen. In
einem hohen ehemaligen Rabbiner-Lehnstuhl, auf
weichen Sitzkissen, die Schriftzüge der Kabbala
trugen, saß Siderius vormittags, nachdem er früh
im Wald, am See sich heilig gesammelt hatte, und
schrieb auf großen Pergamentblättern, die er von
einer Bibliophilen-Offizin besorgte, seine Ideen
nieder. Nachdem ein Blatt vollgeschrieben war,
nahm es seine Frei-Gemahlin Luzinde, trug es auf
den Leuchtertisch und legte es in eine lila Samt
gebundene große Mappe mit Atlas-Schnüren. Das
Werk gedieh, Luzinde häufte Blatt auf Blatt, und
eines Tages wurde der Freundeskreis mit
Seidenfaden zur Besichtigung des vollbrachten
Werkes geladen.
Als alle versammelt waren, löste Luzinde die
Schnüre um den heiligen Leib des Buchopfers von
Siderius, hob den lilasamtenen Deckel. Niemand
durfte näher heran treten und Luzinde zeigte von
fern die beschriebenen Pergamentblätter. Der
ganze Kreis guckte fleissig, aber leider war nicht
mehr festzustellen als die Tatsache beschriebener
Blätter. Kein Hauch, geschweige denn ein Wort
des neuen Buches wurde den Freunden vergönnt.
An einem Sommertage begab sich Siderius mit
Luzinde plötzlich auf eine Reise nach dem Balkan.
An diesem Tage erhielt Seidenfaden ein Exemplar
des neuen Buches, das Siderius auf eigene Kosten
ohne Wissen seiner Freunde hatte drucken lassen.
Seidenfaden saß auf dem Scheiterhaufen seines
Ruhmes, den er im Begriff gewesen war, aus
Brettern mit Pappe zusammenzuleimen. Seite für
Seite, Satz, für Satz, fast Wort für Wort verglich
er das Buch von Siderius mit seinem Werk, als
hätte der Eine seherisch den Anderen vorausge-
ahnt, als hätte der Andere treu dem Ersten jeden

Gedanken, jedes Wort nachempfunden. Seiden-
faden war der Vorläufer und eifernde Täufer, Si-
derius der fanatische Heiland selber.
Beiden gemeinsam war der germanische Zier-
garten, in dem sie ihre wunderlichen Topfpflänz-
chen aufzogen. Seidenfaden wollte das Weitende
durch die „gottesmütterliche Weltüberwindung der
Weiber", Siderius predigte im Geschmack des
Technologen am Berliner Tageblatt die Weltzer-
störung durch Radium. Beide sehnten sich nach
dem Paradies durch Ueberwindung, der Eine der
Weiber, der Andere der Zierrate des Madensacks.
Seidenfaden wütete; gegen den verbrecherischen
Freund, der Montenegro entgegenreiste.
* *
*
Der Verrat des Siderius gab den Anstoß zu
Seidenfadens Neuwerden, seiner Herabkunft in
erneuerter Fleischlichkeit. So war Mahadöh zum
sechsten Mal herniedergestiegen, um Goethen
gleich zu werden, mitzufühlen der Liebe Lust und
Qual.
Auf siebenfachem Regenbogen stieg Seiden-
faden hernieder. Die ohrenbedeckenden Haare
verschwanden und machten der Künstlerlocke
Platz, das transzendentale Funkeln des Fra Ange-
lico wurde zu Flammen in seinen hübschen roten
Bäckchen, die; Kniehosen wurden von Sine ver-
längert zur eleganten Hose nach Maß, und seine
Vegetarier - Sandalen wurden zu bebänderten
glänzenden Lackschuhen, helle Seidenstrümpfe,
helle Jacke,, ein brauner Samthut vertauschten den
schwarzen Seidenfadens. Aauf seinem Schreibtisch
stand die Photographie des alten Peter Altenberg,
wie er mit dem linken Arm fest umschlungen ein
kleines nacktes Mädelchen großväterlich liebe-
voll an sich drückt. Drunter der Spruch: „Sei
nackt schön! Wie du sonst bist, ist doch belang-
los." Man war von der Bewunderung kolossaler
Huldinnen der Zeiten Kaulbachs und Wagners
fortgeschritten zur sexuellen Begeisterung für die
kleinsten Mädelchen. Geradeswegs, unmittelbar in
die Augen junger Mädchen und Frauen, auf
ihre Kleider wollte Seidenfaden fortab die neuen
Gedanken schreiben, die für die liebenswürdigsten
Wesen am schönsten waren, ihnen paßten wie
Stöckelschuh und Hut. Wenn ihre Kleider an
Seidenfadens wadenlosem Bein vorüberstreiften
und im Bahnabteil ihre Kniee die seinen rieben, so
geschah es unfehlbar darum, weil er für die philo-
sophische Fortpflanzung der Erotik zu sorgen
hatte.
Seidenfaden stand vorm Aufbruch des unver-
drängten, unbeschränkten Liebesgenusses, die
reizenden Widerspiele der männlichen Schöpfung
sollten aus der blinden Feßlung durch den männ-
lichen Egoismus befreit werden. Das Patriarchat
war endgültig erledigt: Weib und Mann sollten die
Eifersucht, die Same alles Bösen war, auslöschen.
Alle jungen Männer und Mädchen sollten frei
lieben lernen, keinem Liebenden durfte Abbruch
geschehen, küssen und umarmen sollte Jeder frei
dürfen in allen möglichen bunten Beziehungen. Die
freie Entwicklung und Zeugung durfte keine
Fessel dulden: die bunte Funktion der Frau im
wechselnden Tausch der Männer und die bunte
Funktion des Mannes im wechselnden Tausch der
Weiber auf Grund der verfeinerten und vergeistig-
ten Leiblichkeiten freier Individuen. Bunte Frei-
Ehen, Verhältnisse auf Kündigung in jedem Ge-
schmack, in jeder Farbe und Gruppierung, ästhe-
tisch oder ethisch. Dann durfte es keine Perversi-
tät mehr geben, kein Odium durfte darauf ruhen,
wenn der liebevolle Seidenfaden kleine Mädchen
küßte oder asketische Frauen umarmte. Die kreuz-

weis verknüpften Paare durften in ein Paradies
treten als Sonnenbad, Kino, Theater der Tausend,
Freilichtbühnen, Nackttänzen, Schönheitsabenden
im bunten Wechsel, Wandervögelreisen!
Aber einen düstren Winkel ghb es, in den
Seidenfadens Kuß der ganzen Welt nicht hinab-
schimmerte, im prächtigen Hause der geistigen
Liebe gab es noch immer den bösen Akt, das
häßliche Anhängsel, den atavistischen Ueberrest,
Wurzel aller Lasten und Qualen, Ursprung aller
Verunstaltung und Vernichtung.
Lohengrin kam nicht aus Nacht und Leiden,
sondern aus Glanz und Wonne her und bestieg
bei Frau Elsens erster böser Frage den Schwanen-
nachen, um den „düstren Winkel" nächtlicher
Leiden zu fliehen. So durften die freien Erotiker,
die Eleganten des Geistes ihre geputzten Liebes-
nachen besteigen, um schön schaukelnd dem häß-
lichen Geschrei der gequälten Wehmutter zu ent-
rinnen.
Seidenfaden dachte sich eine Kunst des Ge-
bärens, spielend, schmerzlos, ohne Gebärwehen
durften die Frauen ihre Kinder glatt zur Welt
bringen.

Fortsetzung folgt


Umberto Boccioni

Nun hat auch Italien den größten künstlerischen
Verlust erlitten: Umberto Boccioni ist am
18. August durch Sturz vom Pferde gestorben. Er
ist vierunddreißig Jahre alt geworden.
Der Name Boccioni bedeutet für Italien und
damit für Europa die Befreiung von der Auffassung
der Kunst als Kunstgeschichte. Die Durchschnitts-
maler der ganzen Erde lebten und leben seit Jahr-
hunderten von den Meistern der Renaissance, alle
die unzähligen Schüler und Schülersschüler wur-
den von der Kunstgeschichte zu Meistern ernannt,
ihre Kopien der wenigen wirklichen Meister in
sämtlichen Museen und staatlichen Instituten dicht
nebeneinander und übereinander aufgehängt. Die
Rahmen vergoldeten verbräunte Bilder und die
Namen ihrer Macher wurden in das goldene Buch
der Kunstgeschichte sorgfältig notiert. Rahmen
und Bücher sind geduldig. Der Satz des Buchs
der Kunstgeschichte bleibt ewig stehen und das
Gold der Rahmen wird nachgeblättert. So wirken
die Bilder, so werden die Bilder immer verbräun-
ter, bis der gesunde Mensch über die Farbe wischt,
die Schminke ist. Boccioni fuhr mit seiner starken
Hand durch die Galerien Italiens, der Staub von
Jahrhunderten fiel hinunter, die sogenannte alte
Kunst war tot und damit das Geschäft Italiens.
Museumsdirektoren und Hotelwirte protestierten.
Die Gebildeten der ganzen Erde waren entrüstet.
Weil Einer gerüstet in den Kampf zog. Die Ge-
bildeten taten, was Entrüstete tun: sie schrieen.
Der Sieger ist stets unbeliebt. Die Gebildeten fühl-
ten sich der Schätze ihres Gedächtnisses beraubt.
Sie hatten den ganzen Satz des dicken Buches
auswendig gelernt. Die wohlgezählten Namen soll-
ten nicht einen Centesimo wert sein. Wo doch
jede namenlose Madonna namenlose Heere ^ von
Deutschen und Engländern nach Italien zog. Alle
Börsen waren ihnen geöffnet. Und da zu jedem
Geschäft ein guter Name gehört, wurde Italien zur
Kunstbörse der Welt ernannt. Mit der Kunst
Hessen sich Geschäfte machen, aber die Kunst
macht keine Geschäfte. Boccioni war ein Romane
und wurde ein Künstler, der also das Romantische
hassen mußte. Er fühlte und wußte, daß Kunst
Ordnung ist, Ordnung, die Romantiker Militaris-
mus nennen. Darum erklärte Boccioni der Erde

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