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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Viertes Heft (Juli 1916)
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Walden, Herwarth: Das Schreiben um die Kunst
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Walden, Herwarth: Retter
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0044

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Das Schreiben um die
Kunst
Ich bin mir durchaus bewußt, welchen Wert
das Schreiben über Kunst hat. Ich fühle mich frei
von) Ueberhebung. Man kann der Kunst nicht die
sogenannten neuen Wege weisen, man kann keine
Entwicklung, keinen Fortschritt zeigen. Denn alles
dieses gibt es nicht in der Kunst. Es gibt über-
haupt keine Kunst. Es gibt nur Künstler. Was ich
Künstler nenne, ist etwas Anderes als die meinen,
die sich Künstler nennen. Viele üben Kunst aus,
also etwas, was es nicht gibt. Mit anderen Worten:
sie ahmen mit größerem oder geringerem Talent
nach, was Künstler schufen. Ihr Wollen ist die
Betätigung des Spieltriebes, der allen Menschen
gemeinsam ist. Der schöpferische Trieb hat in ihm
seinen Ursprung. Durch dieses Gemeinsame besitzt
jeder Mensch die Fähigkeit, Werke von Künstlern
zu empfinden. Tritt der Spieltrieb ins Bewußt-
sein, entsteht der Wunsch zur Schöpfung. Bleibt
der Spieltrieb im Unbewußten, gibt er die Freude
an künstlerischen Werken. Ist der Spieltrieb ver-
kümmert, entsteht das Kunstfremde. Mit dem ver-
kümmerten Spieltrieb arbeitet der Akademiker,
der Kunstwissenschaftler, der Gebildete. Mit dem
Spieltrieb im Unbewußten arbeitet das Talent, der
„nachschaffende" Künstler, der Kunstfreund. Mit
dem bewußten Spieltrieb schafft der Künstler. Er
ist bewußt. Er will sein Unbewußtes sehen. Er
kann nur sehen, was gestaltet ist. Die Gestaltung
ist sein Ebenbild. Aber sein Ebenbild kann zu-
nächst und zuerst ;mur er erkennen. Seinem Unbe-
wußten steht sein Bewußtes am nächsten. Und
selbst wenn er es verkennt, ist es immer noch
besser gekannt als von jedem Zweiten. Objektive
Feststellungen sind unmöglich. Das Objekt kann
kein Objekt erkennen. Seine größte, tiefste Sub-
jektivität erst macht ihn zum Objekt. Erst durch
seine Subjektivität sehe ich ihn. Ich öffne die
Augen, er blickt mich an, sein Blut fließt in meines,
der neben mir fühlt die gleichen Schwingungen,
auch der Dritte, der Zehnte, der Hundertste, derTau-
sendste. Seine Subjektivität ist objektiv geworden.
Wir verstehen den Künstler. Was ist geschehen?
Warum verstanden wir ihn nicht? Warum fühlte
der Tausendste nicht gleich, was der Zweite
fühlte? Wo doch der Zweite nur fühlen kann, was
der Tausendste fühlt. Weil der Tausendste suchte,
was nicht zu finden war, und weil der Zweite
fand, was er nicht suchen brauchte: die Ehrfurcht
und die Liebe des Menschen zum Menschen. Der
liebt, der vernichtet. Der hat Ehrfurcht, dem
nichts heilig ist. Der baut auf, der niederreißt.
Der schafft Kunst, der die Kunst nicht kennt. Man
kann nur kennen, was ist. Aber was nicht ist,
schafft der Künstler. Nun heißt es, die Augen
öffnen. Ich blicke auf das, was ich sehe. Ich löse
Scheinvisionen auf, um den Blick frei zu Visionen
zu bekommen. Durch das Negativ wird man das
Positive sehen, wirklich sehen. Begriffe sollen Be-
griffe werden, damit das Begriffene wieder ein
Greifendes sei.
Von' Nichts fordert der Mensch mehr als vom
Geschenk. Jede Kunst soll etwas, trotzdem der
Fordernde sie eigentlich nicht will. Das Gedicht
soll sich reimen, das Lied melodisch, das Bild na-
türlich sein. Denn sie sollen das Leben ver-
schönern. Sie sollen also mehr, als das natürliche
Leben dem Einzelnen nach seiner Meinung gibt.
Die Kunst soll ferner wahr sein, die Menschen zu
edlen Taten begeistern, sie belehren, die Liebe
zum Vaterland und zu den großen Männern stär-
ken. Damit die Kunst das alles kann, hat man
ihr Gesetze gegeben. Man nennt das Aesthetik
oder die Lehre vom Schönen. Zweifellos ist für

Jeden das schön, was ihm gefällt. Wenn die
Schönheit Vielen gefällt, ist sie anerkannt. Das
Kunstwerk, das mir gefällt, bleibt mir schön, auch
wenn es mir allein gefällt. Den Andern gefällt
morgen etwas besser. Was ist das für eine Schön-
heit, die die Schönheit von gestern werden kann.
Die Schönheit soll etwas. Und wenn sie die Pflicht
getan hat, wird sie in Ungnade entlassen. Sie ge-
fällt eben nicht mehr. Zum Dank wird ihr dann
der geschichtliche Wert verliehen). Geschichte ist
eine Aufzählung der Geschehnisse und irrtümlicher
Schlüsse. Alles, was etwas sollte, konnte nicht
einmal das leisten, was gefordert wurde. Das Le-
bendige ist nie tot. Was starb, war tot, als es
lebte. Vom Leben kann man nur fordern was es
gibt. Von der Kunst auch. Und von dem Künstler
auch.
Herwarth Waiden

Retter
Kunst greifbar
Aus der Ankündigung eines stattlichen Bandes
im handlichen Oktav „Die Karikatur im Welt-
kriege": „Da er selbst eine große Karikaturen-
sammlang über den Weltkrieg besitzt, konnte er
im Abbildungsmaterial das Beste und Packendste
geben und so auf kleinem Raume wirklich viel
bieten. Der Käufer bekommt also für wenig Geld
die Sahne und braucht sich nicht durch ein Zu-
viel erschöpfen zu lassen." So offeriert die Werk-
statt der Kunst freibleibend Sahne greifbar ab-
gschöpft für die Erschöpften.
Oer behandelte Greco
Die Werkstatt der Kunst veröffentlicht ein
augenärztliches Gutachten: „Am wahrscheinlich-
sten erscheint die Annahme, daß ein oder beider-
seitiger regulärer Hornhaut-Astigmatismus bei
Greco bestanden habe und daß derselbe im jugend-
lichen Alter durch eine gleichzeitig bestehende
irreguläre Kontraktion des Akkomodationsmuskels,
welche einen den Hornhaut-Astigmatismus kor-
rigierenden Linsenastigmatismus hervorruft, kor-
rigiert war. Doktor Emil Berger." Das Sachver-
ständnis dieses Augarztes wird durch seinen
Bruder, den Kunstmaler Prof. Ernst Berger, be-
stätigt. Dessen Kunst wiederum von dem Bruder,
dem Augenarzt Doktor Emil Berger, bestätigt
wird. So beherrscht die Firma Berger Gebrüder
den Kunstmarkt. Am wahrscheinlichsten erscheint
die Annahme, daß die beiden Berger, dieselben,
im jugendlichen Alter durch eine gleichzeitig be-
stehende irreguläre Kontraktion, welche eine die
Blutsverwandtschaft korrigierende Transfusion
hervorruft, niemals nicht korrigiert wurden.
Ber Schafboden
Ein Münchener Maler über Kunst in den Süd-
deutschen Monatsheften: „Die bildende Kunst ent-
wickelte sich schon lange nicht mehr wie in frühe-
ren Zeiten auf der Basis einer gesunden Schule,
einer bewährten Tradition, wie etwa ein Baum
wächst in seiner heimatlichen Erde, der dann
Blüten trägt und Früchte bringt. Vielmehr ließ
eine forcierte ungesunde Treibhauskultur exotische
Pflanzen emporschießen — die nach kurzer Pracht
wieder zusammenfielen." Nicht alle Bäume tragen
Obst. Und die Münchner Schule kann man an
ihren Früchten nicht erkennen. Sie ist nämlich
eine ungesunde Treibhauskultur, aus der deshalb
überhaupt keine Pflanzen emporschießen. Darum
schließt der Münchener: „Weg mit allem Falschen,
Fremden, Künstlichen, wir haben übergenug da-

von, uns hier draußen im Felde ist dies Getue
zuwider, wir lehnen alle schwachen Phrasen ab:
Gebt uns Brot statt der Steine!" Man fühlt: die
starken Phrasen sind gerettet.
Auch ein Deutscher
Ein Doktor Robert Volz veröffentlicht in der
dunklen Werkstatt der Kunst Folgendes: „Es war
im Jahre 1911. Da erschien bei H. A. Ludwig
Degener in Leipzig ein kleines Buch (siebenund-
zwanzig Seiten) unter dem Namen: Die kranke
deutsche Kunst, Nachträgliches zu Rembrandt als
Erzieher. (Preis eine Mark). Der Verfasser ver-
barg sich hinter der Aufschrift: Auch von einem
Deutschen. Er verbarg sich, nicht weil er Angst
hatte vor gegnerischen Ansichten, sondern weil
er in einer für die damaligen Verhältnisse rich-
tigen Erkenntnis der Kräfteverteilung sich sagen
durfte, daß er mit allerlei Persönlichem werde be-
gossen werden und daß es der Sache vielleicht
nützlicher sein könnte, durch völlige Ausschaltung
seiner Person Anwürfe zu vermeiden, die schließ-
lich auch bei ganz Unbefangenen den Wert der
Schrift herunterzusetzen vermöchten." Unkraut
schießt durch Begießen nur besser. Und daß die
Deutschen erst Rembrandt als Erzieher brauchen,
um ihre Kunst gesund zu machen, beweist eine
krankhafte Auslandssucht des Auch-Deutschen.
Sofort fand sich auch ein anderer Auch-Deutscher
namens Momme Nissen. Diese Schrift hat der Dok-
tor Robert Volz früher gelesen als die Schrift des
nicht zu begießenden Erziehers. Der Rembrandt-
Deutsche hat nach vier Jahren Mut bekommen:
„Heute, da Andere offen auf dem Plane erschienen
sind, gewissermaßen als Stürmer des Zeitgeistes,
kann der Verfasser ruhig an die Oeffentlichkeit
treten." Mit Momme Nissen Arm in Arm fordert
er sein Jahrhundert gewissermaßen in die Schran-
ken: „Denn auch eine Minderzahl angriffslustiger
Streiter braucht nicht mehr zu fürchten, von den
verkalkten Kunstschwätzern überrannt zu wer-
den . . Die Streiter, die sich vor verkalkten
Kunstschwätzern fürchten, scheinen mir nicht sehr
deutsch zu empfinden. Sie fürchten sich nicht
mehr angeblich, „weil in breiten Schichten der Be-
völkerung ein gesundes Kunstempfinden an die
Oberfläche gestiegen ist." Das Kunstempfinden)
sieht zwar noch nicht sehr sauber aus, weil es
eben erst an die Oberfläche gestiegen ist, aber
die breiten Schichten der Bevölkerung haben stets
schlechte Bilder gekauft. Sie könnten höchstens
jetzt noch schlechtere Bilder kaufen. „Das sichert
den Kämpfern den Rückhalt." Kämpfer müssen
auch Brücken abbrechen können. Das Kämpfen
mit Rückhalt hat seine Nachteile. Die Kämpfer für
die Kunst haben stets rückhaltlsos gekämpft. Sie
wurden zwar im Rücken angegriffen, ihre Augen
standen aber zur Kunst gerichtet. Sie stürmten
zwar nicht gewissermaßen den Zeitgeist, .dafür
stürmten sie die Zeit, die den Geist unnatürlich
fand. Der Deutsche fürchtet sich nicht in der Min-
derheit, auch wenn rückhältige Streiter noch so
schwätzen. Doch will ich auch den andern un-
bekannten Verfasser zu Namen kommen lassen:
„Der bislang unbekannte Verfasser ist der Ge-
heime Baurat Prof. Dr. Albrecht Haupt in Han-
nover." Nun wagt er sich um Haupteslänge an
die Oberfläche. Aber nur der Doktor Robert Voliz
bemerkt es: „Wohltuend wirkt die herbe Klar-
heit, mit der er alles durchleuchtet; das Emporkom-
men unverfrorener Nichtskönner, in denen die
Menschen ringende Große zu sehen glauben, die
Kurstreibereien der Kunsthandlungen, die wider-
sinnigen Versuche, die Akademien von ihrem
Platze zu verdrängen, das gewissenlose Spiel der
vielen kleinen unfähigen Kunstschreiber usw." Die

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