— diesen ganzen Abend bist du mir nahe — ich
kann an dein entlegenes frühes sinnloses Grab in
Rußland nicht denken ohne Tränen. Du warst,
gefaßt und geduldig, ein Werkzeug Gottes — du
glühtest, ieuchtetest und strahitest — nie werde
ich den Gianz vergessen, mit dem deine Dichtung
Geschehen vor mir in den Himmei stieg. Meine
Augen sehen in dem grauen gerahmten Himmel vor
mir ein unaufhöriiches buntes Feuer steigen, kühn
und stoiz, verschwenderisch, unerschöpfiich.
Ich bekenne mich an diesem giückiichen Abend
innig zu dir — du jubeinder Ueberwinder.
Gern hätte ich dem Lebenden das gesagt —
nun nimm mein Bekenntnis als Busch glühender
Rosen auf dein Grab.
Adolf Behne
Seidenfaden
Erzählung
Adoif Knoblauch
VIII
Im Hause des verwittweten Doiiing waren die
drei Mädels mit Nonne allein. Der Vater war
zum Stelidichein fortgefahren und kam erst am
andern Morgen zurück. Sine war zur Maistunde,
hatte aber ihre Rückkehr am Nachmittag und Sei-
denfadens Besuch angekündigt.
In den zehn Jahren seit Sinens Selbstmord
war Seidenfaden dem schwiegerväterlichen Hause
ferngeblieben. Er hatte sich endlich entschlossen,
Sinens Bitten nachzugeben aus Neugier nach den
Kleinen im Nest. Aber nur in Abwesenheit des
Familienpapas kam er infolge der triebhaften Ab-
neigung gegen andere Hähne, die im Korbe sassen.
Seidenfaden liebte die weibliche Geselligkeit
und zog sie endgültig anderen Beziehungen vor,
er wellte seine kreuzweisen Gelegenheiten haben.
Bei Verwandten und Bekannten der Eltern und
der Dollinge lud er sich zu Familienfesten ein
und empfahl sich der weiblichen Schätzung.
Sinens Bräutigam wollte kommen. Die Dolling-
mädels flüsterten neugierig von den schwarzen
Kniehosen Herrn Seidenfadens, seinen runden
Augen, schwarzen Locken, vom blassen Lenau-
gesicht, an das er die Geige drückte. Sibille be-
stand ernsthaft darauf, Geige lernen zu wollen.
Katherine fuhr mit dem Zeigefinger wagerecht vor
Sibillens Nase: „dafür gibt der Papa kein Geld,
denn er braucht alles für die Liebste". Schweig-
stille stichelte auf die lange Engelslocken-Sibille:
„must Herrn Seidenfadens zweite Liebste werden,
dann kriegst dus umsonst".
Die Mädchen redeten sich wirr um Sinens
Liebsten, bis Nonne den Kaffe fertig hatte. Sie
sassen alte wartend im Kinderzimmer zusammen
und guckten fleissig auf die Gartentür. Die Fen-
ster standen weit auf. Der schöne Sommer-Nach-
mittag bog sein feuriges Antlitz über ihre zarten,
festlichen Herzen, alle Drei fühlten, daß der
Liebste vor der Gartentür stünde, und hörten
seine Stimme traulich undeutlich Einlaß begehren.
Sibillens Locken prangten flimmernd, Katharine
lachte mit rundem Lachen lieben Glückes,
Schweigstille ahmte Seidenfadens Schmachten
nach. Dann sangen sie mit Nonne:
„Als ich kam an das kanaljeische Meer
fand ich drei Männer und noch viel mehr.
Der Eine hatte niemals Was
Der Andere nicht Das
und der Dritte garnichts.
Die kauften sich eine Semmel
und einen Zentner holländischen Käse,
fuhren damit an das kanaljeische Meer.
Als sie kamen an das kanaljeische Meer
kamen sie in ein Land, das war leer.
Sie kamen an eine Kirche von Papier,
drin war eine Kanzel von Korduan
und ein Pfaff von Rotstein schrie:
heut' haben wir Sünde getan!
Verleiht uns Gott das Leben,
wollen wir Morgen wieder dran!
Und die drei Schwestern Lazari
Katharine, Sibille, Schweigstille
weinten bitterlich.
Der Hahn krähete Buttermilch!"
Weinerlich Geschluchz endete das schöne Lied,
bis Schweigstiile, die erste Stimme hatte, schrill
krähte, und alle Vier „Buttermilch" murmelten, als
begrüben sie einen Toten. Dann schrillten die
Stimmen hoch zum Katzenkonzert „Buttermilch",
und die Mädels hüpften und freuten sich. Als der
Pfaff von der Sünde schrie, an die er „Morgen
wieder dran wolle", war Sine mit Seidenfaden un-
beobachtet in die Gartentür getreten und gingen
leise in die Wohnung, huschten ins Bücherzimmer,
denn sie hatten Angst vor dem alten Hahn.
Mit einmal hieß es in der Kinderstube „der
Bräutigam"! Alle stürmten die Treppe und ver-
fügten sich zum Kaffetisch, guckten auf die Tür.
Schweigstille ulkte „heut haben wir Sünde getan"
und hieb mit dem Fäustchen nach Sibillen, als
gäbe es eine Ohrfeige.
Nach langem Zieren erschien Seidenfaden im
Kreis der Mädchen: kein Lenau, nur ein rot-
wangiger, elegant angezogener Ziegenbart mit der
Stimme einer quäkenden Kindertrompete. Ein
Bräutigam, der sauer sah, nichts redete, alle an-
starrte und jeder Bewegung, jedem Blick der
Mädchen folgte. Die steife leicht befangene Sibille
wagte sich nicht zu bewegen und wartete nur
darauf, endlich vom Tisch aufstehen zu dürfen.
Unter peinlichem Schweigen vollzog sich das sonst
so muntre Kafeetrinken. Nonne betrachtete ver-
stohlen die in blaue Schleier gehüllte Sine,, an
der alles merkwürdig blau war, blau waren auch
die Augbrauen mit dem Farbstift nachgetönt. Sine,
feierlich steif und gepudert, war gattinnenhaft um
den Bunten bemüht, bediente ihn eigenhändig und
war von zurückhaltender Wohlerzogenheit.
In der unruhigen Stille sprach Schweigstiile
mit Kühle: „Sibille! du stippst die Locken in den
Kaffee." Die träg vornübergesunkene Sibille fuhr
hoch. Die Dollinge lachten und Schweigstiile rief:
„Der Hahn krähete Buttermilch!"
Die Dollinge schnellten am Faden gezogen von
den Stühlen auf und sagten artig „Guten Abend",
liefen hinaus und lachten über den wunderlichen
Stock von Bräutigam. Seidenfaden kehrte mit
Sinen ins Bücherzimmer zurück und kramte im
Wust neu eingelaufener Rezensionsexemplare.
Nachdem er die für sich geeigneten Bücher be-
zeichnet und zurechtgelegt hatte, erwog der Bunte
die Liebesmöglichkeiten der drei Nestlinge und
beschloß, Sibillen der Ruhigen, Engelshaften, sich
künftig zu nähern und sie auszuzeichnen. Er
machte Sinen auf die spröde, aber reifende und
sanfte Jungfräulichkeit aufmerksam. „Bunterchen,
kommst nu öfter, so scheene Meechens for Schil-
lern", quäkte Sinchen im blauen Schleier, hin-
gebend an seine Erotik. Draußen sangen die
Dollinge: „Als sie kamen an das kanaljeische Meer,
kamen sie in ein Land, das war leer."
IX
Frau Gabriele hatte sich nach hitzigen Ver-
irrungen Siegfried, dem Freunde Seidenfadens,
hingegeben. Siegfried nahm nachbarlich ihrer Ehe-
wohnung eine Stube, in der er im Geiste ge-
schwisterlich seine Frei-Ehe begann, indes sie
noch Frau in alter Ehe-Ordnung war.
Danach nahm der Mann alter Ehe-Ordnung,
geödet von gemeinsamer Unfruchtbarkeit, in der
Stadt ein Zimmer und überließ Frau Gabrielens
Ehestand dem Anwärter der neuen Ordnung. Er
war nur sonntäglich genehmer Gast ,der jungen
Frei-Ehe. Er leitete die kaufmännische Aus-
gleichung der verschobenen und neu zu knüpfen-
den Interessen des Dreiecks, das ein Fund für
kniffliche Haarspaltereien, unerschöpfliche Witze
war. Als der Mann alter Ehe-Ordnung im Schweiß
des gelobten Strebens am Ausgleich der Ver-
schiebungen arbeitete, um siegbahnend für Ga-
brielens verjüngten Liebesgeist die uralte Ehe-
mauer zu bezwingen, verreisten die Liebenden
eines Sommertages mit der Unvermitteltheit, die
ein gebieterisch nahendes Ereignis befahl.
Aus dem Haag und London kamen Ansichts-
karten: „Frau Gabrielens blauer Schleier weht auf
dem Ozean! Der Liebsten braunes Jungens-
gesicht ist weich und innig geworden. Ihr seid
Einander so gleich —!" verbeugte er sich liebens-
würdig vor Sinen.
Frau Gabrielens blauer Schleier wehte zur süd-
lichen Halbkugel hinab. Die Liebenden ahmten
Seidenfadens große Reise nach, nur daß Siegfried
Tanger nicht berührte. Sie reisten durch Spanien
und wohnten eine Woche in Paris, dem Vorort
aller Republiken, um das Fest der Erstürmung der
Bastille mitzufeiern. Die Liebenden [hatten auf der
Reise in Frankreich glücklich das Geheimnis ihres
Liebespfandes gehegt. Vor den Öl-Leinwänden
der Watteau, Fragonard, Prudhon wünschten sie
begeistert, daß ihr Kind ein Alädchen würde, dem
sie den Namen der Göttin von Paris: Marianne
mit der phrygischen Mütze schenkten.
Nach Siegfrieds Heimkehr begann Frau Ga-
brielens juristisch kniffliche Schwangerschaft. Der
den dicken Frauen, dem Dickwerden überhaupt
feindlich gesonnene Seidenfaden weilte noch am
Gardasee zur Kräftigungskur von erotischen
Schwächungen. Frau Gabriele war hochgeseg-
neten Leibes, an ihr vollzog sich die wunderliche
Entstellung der Schwangerschaft, und ihr Gesicht
wurde weich und gedunsen. Der Jahrzehnte
schlummernde Trieb zur Ausdehnung ihrer inneren
Organe war mit elementarer Ueberschwemmung
aufgebrochen, (urwüchsige Kraft trieb den Leib
hoch wie Hefe den Kuchen im Backofen.
Siegfried betete zum gesegneten Leib der Lieb-
sten,, er und der Mann alter Ehe-Ordnung ab-
wechselnd hüteten und versorgten die neue Mut-
ter. Siegfrieds jugendliche Dankbarkeit war er-
frischend! Ein schönes, kraftvolles Weib zu
Eigen, eine unbekannte, urwüchsige Welt weit-
offen, unbeschritten: das bedeutete Gnade in der
Dürre seiner Mannheit! Frau Gabriele gebar die
wirkliche Marianne. Der frei-eheliche Vater und
der treue unfruchtbare Ehemann stellten gemein-
sam zärtlich das Neugeborene aufrecht ins Licht
der Welt. Es ergab sich die kniffliche Frage, wer
als Vater gelten, wer vor die Behörde hintreten
und erklären sollte: „dies ist mein Kind!" Ein
Kind, das jenen Namen des unfruchtbaren Mannes
alter Ehe-Ordnung erbte, das verurteilt war, den
Namen seines Erzeugers zu verleugnen, denn gar
zu eilig hatte diese besondere Idee einer mensch-
lichen Individualität mit der größten Gier und Hef-
tigkeit nach ihrer Realisation in der Erscheinung
gestrebt.
Marianne lebte im Licht der Welt, und als sie
Papa und Mama sagen konnte, lernte sie bereits
die Melodie jenes gefeierten Liedes: die Inter-
nationale! Im dritten Jahre stammelte sie kind-
lich von den „Geldssränken der Reichen!" Den
94
kann an dein entlegenes frühes sinnloses Grab in
Rußland nicht denken ohne Tränen. Du warst,
gefaßt und geduldig, ein Werkzeug Gottes — du
glühtest, ieuchtetest und strahitest — nie werde
ich den Gianz vergessen, mit dem deine Dichtung
Geschehen vor mir in den Himmei stieg. Meine
Augen sehen in dem grauen gerahmten Himmel vor
mir ein unaufhöriiches buntes Feuer steigen, kühn
und stoiz, verschwenderisch, unerschöpfiich.
Ich bekenne mich an diesem giückiichen Abend
innig zu dir — du jubeinder Ueberwinder.
Gern hätte ich dem Lebenden das gesagt —
nun nimm mein Bekenntnis als Busch glühender
Rosen auf dein Grab.
Adolf Behne
Seidenfaden
Erzählung
Adoif Knoblauch
VIII
Im Hause des verwittweten Doiiing waren die
drei Mädels mit Nonne allein. Der Vater war
zum Stelidichein fortgefahren und kam erst am
andern Morgen zurück. Sine war zur Maistunde,
hatte aber ihre Rückkehr am Nachmittag und Sei-
denfadens Besuch angekündigt.
In den zehn Jahren seit Sinens Selbstmord
war Seidenfaden dem schwiegerväterlichen Hause
ferngeblieben. Er hatte sich endlich entschlossen,
Sinens Bitten nachzugeben aus Neugier nach den
Kleinen im Nest. Aber nur in Abwesenheit des
Familienpapas kam er infolge der triebhaften Ab-
neigung gegen andere Hähne, die im Korbe sassen.
Seidenfaden liebte die weibliche Geselligkeit
und zog sie endgültig anderen Beziehungen vor,
er wellte seine kreuzweisen Gelegenheiten haben.
Bei Verwandten und Bekannten der Eltern und
der Dollinge lud er sich zu Familienfesten ein
und empfahl sich der weiblichen Schätzung.
Sinens Bräutigam wollte kommen. Die Dolling-
mädels flüsterten neugierig von den schwarzen
Kniehosen Herrn Seidenfadens, seinen runden
Augen, schwarzen Locken, vom blassen Lenau-
gesicht, an das er die Geige drückte. Sibille be-
stand ernsthaft darauf, Geige lernen zu wollen.
Katherine fuhr mit dem Zeigefinger wagerecht vor
Sibillens Nase: „dafür gibt der Papa kein Geld,
denn er braucht alles für die Liebste". Schweig-
stille stichelte auf die lange Engelslocken-Sibille:
„must Herrn Seidenfadens zweite Liebste werden,
dann kriegst dus umsonst".
Die Mädchen redeten sich wirr um Sinens
Liebsten, bis Nonne den Kaffe fertig hatte. Sie
sassen alte wartend im Kinderzimmer zusammen
und guckten fleissig auf die Gartentür. Die Fen-
ster standen weit auf. Der schöne Sommer-Nach-
mittag bog sein feuriges Antlitz über ihre zarten,
festlichen Herzen, alle Drei fühlten, daß der
Liebste vor der Gartentür stünde, und hörten
seine Stimme traulich undeutlich Einlaß begehren.
Sibillens Locken prangten flimmernd, Katharine
lachte mit rundem Lachen lieben Glückes,
Schweigstille ahmte Seidenfadens Schmachten
nach. Dann sangen sie mit Nonne:
„Als ich kam an das kanaljeische Meer
fand ich drei Männer und noch viel mehr.
Der Eine hatte niemals Was
Der Andere nicht Das
und der Dritte garnichts.
Die kauften sich eine Semmel
und einen Zentner holländischen Käse,
fuhren damit an das kanaljeische Meer.
Als sie kamen an das kanaljeische Meer
kamen sie in ein Land, das war leer.
Sie kamen an eine Kirche von Papier,
drin war eine Kanzel von Korduan
und ein Pfaff von Rotstein schrie:
heut' haben wir Sünde getan!
Verleiht uns Gott das Leben,
wollen wir Morgen wieder dran!
Und die drei Schwestern Lazari
Katharine, Sibille, Schweigstille
weinten bitterlich.
Der Hahn krähete Buttermilch!"
Weinerlich Geschluchz endete das schöne Lied,
bis Schweigstiile, die erste Stimme hatte, schrill
krähte, und alle Vier „Buttermilch" murmelten, als
begrüben sie einen Toten. Dann schrillten die
Stimmen hoch zum Katzenkonzert „Buttermilch",
und die Mädels hüpften und freuten sich. Als der
Pfaff von der Sünde schrie, an die er „Morgen
wieder dran wolle", war Sine mit Seidenfaden un-
beobachtet in die Gartentür getreten und gingen
leise in die Wohnung, huschten ins Bücherzimmer,
denn sie hatten Angst vor dem alten Hahn.
Mit einmal hieß es in der Kinderstube „der
Bräutigam"! Alle stürmten die Treppe und ver-
fügten sich zum Kaffetisch, guckten auf die Tür.
Schweigstille ulkte „heut haben wir Sünde getan"
und hieb mit dem Fäustchen nach Sibillen, als
gäbe es eine Ohrfeige.
Nach langem Zieren erschien Seidenfaden im
Kreis der Mädchen: kein Lenau, nur ein rot-
wangiger, elegant angezogener Ziegenbart mit der
Stimme einer quäkenden Kindertrompete. Ein
Bräutigam, der sauer sah, nichts redete, alle an-
starrte und jeder Bewegung, jedem Blick der
Mädchen folgte. Die steife leicht befangene Sibille
wagte sich nicht zu bewegen und wartete nur
darauf, endlich vom Tisch aufstehen zu dürfen.
Unter peinlichem Schweigen vollzog sich das sonst
so muntre Kafeetrinken. Nonne betrachtete ver-
stohlen die in blaue Schleier gehüllte Sine,, an
der alles merkwürdig blau war, blau waren auch
die Augbrauen mit dem Farbstift nachgetönt. Sine,
feierlich steif und gepudert, war gattinnenhaft um
den Bunten bemüht, bediente ihn eigenhändig und
war von zurückhaltender Wohlerzogenheit.
In der unruhigen Stille sprach Schweigstiile
mit Kühle: „Sibille! du stippst die Locken in den
Kaffee." Die träg vornübergesunkene Sibille fuhr
hoch. Die Dollinge lachten und Schweigstiile rief:
„Der Hahn krähete Buttermilch!"
Die Dollinge schnellten am Faden gezogen von
den Stühlen auf und sagten artig „Guten Abend",
liefen hinaus und lachten über den wunderlichen
Stock von Bräutigam. Seidenfaden kehrte mit
Sinen ins Bücherzimmer zurück und kramte im
Wust neu eingelaufener Rezensionsexemplare.
Nachdem er die für sich geeigneten Bücher be-
zeichnet und zurechtgelegt hatte, erwog der Bunte
die Liebesmöglichkeiten der drei Nestlinge und
beschloß, Sibillen der Ruhigen, Engelshaften, sich
künftig zu nähern und sie auszuzeichnen. Er
machte Sinen auf die spröde, aber reifende und
sanfte Jungfräulichkeit aufmerksam. „Bunterchen,
kommst nu öfter, so scheene Meechens for Schil-
lern", quäkte Sinchen im blauen Schleier, hin-
gebend an seine Erotik. Draußen sangen die
Dollinge: „Als sie kamen an das kanaljeische Meer,
kamen sie in ein Land, das war leer."
IX
Frau Gabriele hatte sich nach hitzigen Ver-
irrungen Siegfried, dem Freunde Seidenfadens,
hingegeben. Siegfried nahm nachbarlich ihrer Ehe-
wohnung eine Stube, in der er im Geiste ge-
schwisterlich seine Frei-Ehe begann, indes sie
noch Frau in alter Ehe-Ordnung war.
Danach nahm der Mann alter Ehe-Ordnung,
geödet von gemeinsamer Unfruchtbarkeit, in der
Stadt ein Zimmer und überließ Frau Gabrielens
Ehestand dem Anwärter der neuen Ordnung. Er
war nur sonntäglich genehmer Gast ,der jungen
Frei-Ehe. Er leitete die kaufmännische Aus-
gleichung der verschobenen und neu zu knüpfen-
den Interessen des Dreiecks, das ein Fund für
kniffliche Haarspaltereien, unerschöpfliche Witze
war. Als der Mann alter Ehe-Ordnung im Schweiß
des gelobten Strebens am Ausgleich der Ver-
schiebungen arbeitete, um siegbahnend für Ga-
brielens verjüngten Liebesgeist die uralte Ehe-
mauer zu bezwingen, verreisten die Liebenden
eines Sommertages mit der Unvermitteltheit, die
ein gebieterisch nahendes Ereignis befahl.
Aus dem Haag und London kamen Ansichts-
karten: „Frau Gabrielens blauer Schleier weht auf
dem Ozean! Der Liebsten braunes Jungens-
gesicht ist weich und innig geworden. Ihr seid
Einander so gleich —!" verbeugte er sich liebens-
würdig vor Sinen.
Frau Gabrielens blauer Schleier wehte zur süd-
lichen Halbkugel hinab. Die Liebenden ahmten
Seidenfadens große Reise nach, nur daß Siegfried
Tanger nicht berührte. Sie reisten durch Spanien
und wohnten eine Woche in Paris, dem Vorort
aller Republiken, um das Fest der Erstürmung der
Bastille mitzufeiern. Die Liebenden [hatten auf der
Reise in Frankreich glücklich das Geheimnis ihres
Liebespfandes gehegt. Vor den Öl-Leinwänden
der Watteau, Fragonard, Prudhon wünschten sie
begeistert, daß ihr Kind ein Alädchen würde, dem
sie den Namen der Göttin von Paris: Marianne
mit der phrygischen Mütze schenkten.
Nach Siegfrieds Heimkehr begann Frau Ga-
brielens juristisch kniffliche Schwangerschaft. Der
den dicken Frauen, dem Dickwerden überhaupt
feindlich gesonnene Seidenfaden weilte noch am
Gardasee zur Kräftigungskur von erotischen
Schwächungen. Frau Gabriele war hochgeseg-
neten Leibes, an ihr vollzog sich die wunderliche
Entstellung der Schwangerschaft, und ihr Gesicht
wurde weich und gedunsen. Der Jahrzehnte
schlummernde Trieb zur Ausdehnung ihrer inneren
Organe war mit elementarer Ueberschwemmung
aufgebrochen, (urwüchsige Kraft trieb den Leib
hoch wie Hefe den Kuchen im Backofen.
Siegfried betete zum gesegneten Leib der Lieb-
sten,, er und der Mann alter Ehe-Ordnung ab-
wechselnd hüteten und versorgten die neue Mut-
ter. Siegfrieds jugendliche Dankbarkeit war er-
frischend! Ein schönes, kraftvolles Weib zu
Eigen, eine unbekannte, urwüchsige Welt weit-
offen, unbeschritten: das bedeutete Gnade in der
Dürre seiner Mannheit! Frau Gabriele gebar die
wirkliche Marianne. Der frei-eheliche Vater und
der treue unfruchtbare Ehemann stellten gemein-
sam zärtlich das Neugeborene aufrecht ins Licht
der Welt. Es ergab sich die kniffliche Frage, wer
als Vater gelten, wer vor die Behörde hintreten
und erklären sollte: „dies ist mein Kind!" Ein
Kind, das jenen Namen des unfruchtbaren Mannes
alter Ehe-Ordnung erbte, das verurteilt war, den
Namen seines Erzeugers zu verleugnen, denn gar
zu eilig hatte diese besondere Idee einer mensch-
lichen Individualität mit der größten Gier und Hef-
tigkeit nach ihrer Realisation in der Erscheinung
gestrebt.
Marianne lebte im Licht der Welt, und als sie
Papa und Mama sagen konnte, lernte sie bereits
die Melodie jenes gefeierten Liedes: die Inter-
nationale! Im dritten Jahre stammelte sie kind-
lich von den „Geldssränken der Reichen!" Den
94