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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Sechstes Heft (September 1916)
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Baum, Peter: Kyland
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Keleti, Arthur: Klagegesang im Jahre Tausendneunhundertfünfzehn
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0074

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sich besonders, da er trotz richtigem Wissen unter
einem Zwange so gefragt hatte. Des Morgens
schon beim Erwachen klopfte sein Herz aus Angst,
was er den Tag über sagen werde. Er ging
meistens in Quai der Angst umher, auf welche
Art er im nächsten Augenblick gesenkten Hauptes
gehen werde und Scham trage.
Dazwischen hatte er Momente, wo er glücklich
war, wo er sich trotzig gegen die Lehre, daß alles
Schmerz sei, sagte, daß er jetzt vollkommen glück-
lich sei. Es war, als er lange gegen die Sonne ge-
schaut hatte und nun abgewendet in und unter den
Wolken Farbeninseln über sich im Halbkreis hin-
und herschweben sah, als er die paar Knaben, die
viel um ihn waren, mit ersonnenen fabelhaften
Erlebnissen gefangen hatte.
„Des Nachts kamen drei Schwestern, nicht
größer als mein kleiner Finger, in grünen, blauen
und gelben Kleidern. Sie schwebten über meinen
Augen, die zur Decke blickten, und ich wußte,
daß sie des Tages in der Sonne wohnen. Die
eine sagte zu mir so leise, daß es auch der Blinde,
Gottäugige nicht gehört hätte: Wir waren zuerst
im Auge Gottes. Da wölbte er um uns als Woh-
nung das runde Licht. Wenn ihr rund vor mir
wäret, sagte ich, würde ich sterben, und alle so
hassen, wie ich sie jetzt liebe. Nur die mit Ge-
schwüren überdeckten Gesichter mit breitem
Lachen würde ich lieben. Denn im Tode kehrt
sich alles Empfinden um. Idh wäre noch unglück-
licher als jetzt. Hinter unserm Haß lauert auch
die Liebe, wie hinter eurer Liebe der Haß. Als
wir im Auge Gottes sichtbar wurden, liebten wir
schon, denn alles, was sich zeigen darf, liebt und
bewundert."
Den folgenden Tag sagte er ihnen, in voriger
Nacht seien sie wieder erschienen und hätten ge-
kichert, wie die Blumen kichern, wenn die Bienen
sie kitzeln: Sie meinten, das mit dem Haß sei
Unsinn. Wir spielen nur. Denn wir sind klein.
Wenn aber eure Erwachsenen Krieg spielen,
schlagen sie sich wirklich tot. Darum ist es bei
euch so traurig. Ihre Füßchen waren Schmetter-
linge und ihre Augen Kolibris. Sie verschwanden
in der Decke, aus der sie lange Hände streckten,
sechsmal so lang als vorher ihre ganze Gestalt ge-
wesen war, manchmal so lang, daß sie mich um-
fassen könnten, denn auch ich war kleiner gewor-
den. Ich fürchtete mich aber nicht, denn ich war
schon halb gestorben und wußte, daß ich nie ein
breites Lachen schön finden werde, daß ich aber
doch hassen mußte, die ich lieben möchte, und daß,
ehe ich wieder leben durfte, ich manchen aus-
blasen möchte. Mein Atem war, als ich noch
lebte, nie so stark, daß er eine Oelflamme aus-
blasen konnte. Die Häuser der Stadt, durch die
ich nun ging, glänzten wie lauter Tautropfen, die
höher waren als ich. Wir spiegelten uns darin
wie in Augen, die uns aber traurig ansahen. So
wohnen wir immer in den Häusern, sagten die
Mädchen, ohne hineinzugehn und ihre blickende
Einsamkeit zu stören. Auch erschrecken wir sie
nicht mit mathematischen Fragen. So sind sie
so vollkommen unglücklich wie wir, deren Spiele
sie ewig betrachten dürfen. Dann begannen sie
einen so zierlichen Reigen, daß sie entzückt glänz-
ten, ebenso wie ich.
Da die Priester die Knaben oft im Geheimen
belauschten, hörten sie auch so ein Märchen.
Einige nahmen seine Partei. Aber der Blinde
sagte:
„Ein Sänger und kein Mathematiker ist eine
Unsumme, nur wirklich bei unstät planlosen No-
madenvölkern. Nur durch das Umfassen des
planvollen Wandels der Sternenwelt, der sich

zu Tempelgängen aufbaut, kommt die Beschauung
von oben." Die Tempelstadt begann mit niedrigen
Häusern und Höfen. Sie erhob sich in breiten
Tempeln, einem Gewirr von Gärten und Schluch-
ten sich hinziehend und stieg auf den Hügel, ein
hochsäuliger schlanker Tempel zum Himmel. Ihn
sah man von überall weiß ragen. Um ihn ließ die
Gottheit in der Dämmerung sein besticktes Ge-
wand wallen. Am Ende der breiten Tempel stan-
'den die Türme, auf denen die Priester rückwärts
lagen oder standen des Nachts und nach oben
schauten. Unter den Tempeln zogen sich gänge-
verbundene Göttergewölbe. Betrat man sie mit
Lampen, glänzten von den Decken und Wänden
Götter, Menschen und Tiere glashell, noch in
Traumformen, schon gestaltenlos-gestaltet mit
zu wandelbarem Ausdruck und Formen, deutlich-
undeutlich, sehr deutbar. Sie wurden später
Tropfsteinhöhlen genannt. Die Wesen waren
lebendig im Eindruck, deutlich, aber der mächtige
Geist, der dort gearbeitet hatte, der Widergeist
der Mathematik haßte die Eindeutbarkeit und
narrte im Schaffen nach der Meinung der Priester
ewig umwandelnd durch die Lebenheischenden
sich und andere. Er war der Geist, der die Toten
aufnahm, die nicht vollkommen in den Sternen-
bahnen ihr Heim hatten. Er quälte die Toten, nicht
aus Nurbosheit, er erschreckte sie aus bösartiger
Laune oft, aber das ewig Ungewisse um sie und
in ihnen war die Qual, der sie sich nur selten im
Genüße von Träumereien entzogen. Ein Anklang
an das Gesetz ist auch in ihnen gegen seinen
Willen, denn der Formung ist sie ungeboren, und
so ist er zur Unvollkommenheit verdammt, ohne
der Schöpfung eine ganz andere entgegen-
setzen zu können.
Plao war unglücklich-rebellisch gegen den
Zwang der Arbeit, unsicher im Verkehr mit denen,
die Zusammenfassung des Geistes von ihm er-
warteten. Wenn sie aber in blauen und silber-
nen Gewändern in einem Tempel singend die
Sterne wandelten, tauchte er in ihren Gleichklang
in klingender Hingegebenheit hinein. Die kleinen
Scheine der Lampen, die in Kreisen und Ovalen
abgesondert von ihnen standen, zogen ihn dann
wieder zu sich. Es waren Stunden reiner Selig-
keit, die er so verbrachte, und hier sagte er sich,
daß er rein glücklich war.
Als er wieder einmal sich zur Stunde, die der
Hagere, Kühnnasige lehrte, verzögert hatte, trat
er hinzu, den Kopf weit vorgestreckt, so daß die
Knaben in ein lautes Lachen ausbrachen. Der
Priester runzelte die Stirne und sagte zornig auf
ihn zugehend:
„Nun laß die bewußt-unvernünftigen Bewe-
gungen." In dem Augenblick, als er vor Plao stand,
trat ihn der unversehens auf die Zehen, so daß
er aufschrie."
Plao stammelte verwirrt:
„0, es tut mir leid, es tut mir weh!"
„Was?"
„Mir tut es weh!"
„Es tut mir weh!" höhnte er. „Komme jetzt
nicht mit Philosophie." Er lachte. „Du bist wohl
so mit den andern verwoben, daß du es fühlst,
wenn es sie schmerzt? Du!, du! der du nichts
Fremdes begreifst."
UnvoHendet / Aus dem Nachlass

Klagegesang im Jahre
T ausendneunhundert-
fünfzehn
Arthur Keleti
Aus dem Ungarischen von Heinrich Horvät
Weinet die ihr noch weinen könnt
Weinet
Beweinet die zwei Beine hatten
Und haben jetzt nur eines noch
Weinet
Beweinet die zwei Augen hatten
Und eines ist jetzt tot
Weinet
Beweinet die zwei gute starke Hände hatten
Und haben jetzt nur eine Hand
Weinet
Beweinet die ein Kind einst hatten
Ein schönes starkes gehegtes Kind
Und die es nicht behalten durften
Weinet
Weint auch um die so noch sehen konnten als
sie gingen ^
Und die jetzt nichts mehr sehn nur ihr Leid
Weinet
Beweinet die nicht einmal gestorben sind
Die sich verloren haben und brauchten
keinen Sarg
Weinet
Beweinet die vielen armen Mütter
Deren Schoß eine traurige Bahre geworden ist
Weinet
Kein Schmerz ist größer als ihr Schmerz
In ihrem engen Schoß die vielen toten Kinder
Die ihr versteht ihrer Herzen unermeßlich
großen Schmerz *.
O weinet, beweinet sie
Weinet
Weinet um das viele verströmende teuere Blut
Und um den endlosen furchtbaren Krieg
Weinet
Nicht trockne in eueren Augen der Bach
der Tränen
Die ihr noch weinen könnt
Weinet
Weinet um sie die schon sanfte selige Tote sind
Und eine blaue Blume blüht aus ihrem zarten
Gaumen
Und um die Lebenden die leben müssen jetzt
Weinet
Beweinet auch die guten kleinen Pferde
Die mit wirren Mähnen und gebrochenen Augen
Schon langsam welken auf den schönen
Schneefeldern.'
Weinet
Beweinet auch die vielen lieben kleinen Häuser
Die die Flammen frassen
Und die vielen kleinen Frauen
Die erschrocken aus den brennenden kleinen
Häusern liefen
Weinet
Beweinet die entblößt sind all ihrer Habe
Vertrieben die Kuh, mit dem Kind auf dem Arm
Und dem belasteten Esel (sie haben nichts als das)
Wer weiß wohin sie ziehn und ihr Los o Gott
wer weiß es —
Weinet
Beweinet die vielen lieben kleinen Waisen
Die armen traurigen Elternlosen in langen
blauen Reihen
Und in traurigen Schuhen von den Nonnen geführt
Weinet
Beweinet auch die vielen zertretenen und
schwachen kleinen Mädchen

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