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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Achtes Heft (November 1916)
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Knoblauch, Adolf: Seidenfaden, [4]: Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0101
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Besuchern wurde das Kind von den stolzen Eltern
dargestellt:
„Völker, hört ihr die Signale!"
X
Siegfried neigte zur Sozialdemokratie. Er ver-
stand es, sich auf Kongressen und Parteitagen den
jüngeren Führern zu nähern und sich wiederholt
im Gespräch mit einer verehrten Persönlichkeit
der Arbeiterpartei auf der Strasse knippsen zu
lassen, sodaß er früh in die illustrierte Presse kam,
und seine Jugend bereits auf Sonnenhöhen der
Öffentlichkeit wandelte.
Als es galt, so schnell wie möglich die amt-
liche Beurkundung seiner Vaterschaft zu erwirken,
als er Gabrielen die erwartete Versorgung be-
schaffen sollte: meldete er sich in engerer Wahl
für eine Redakteurstellung an der sozialdemokra-
tischen Zeitung einer märkischen Stadt. Er wurde
gewählt und erhielt gleichzeitig das Amt des
Partei-Seelenwärters im Landkreise.
Solang die Verschiebungen des Mannes alter
Ehe-Ordnung noch im Schweben waren, durfte
Siegfried nur sonntäglich zu Gabriele und seinem
Kinde reisen. Endlich durfte er heiraten! Vor die
Behörde traten gemeinsam zwei verjüngte Paare
und gaben den Ausgleich der verschobenen, jetzt
endlich neu geknüpften Interessen zu Protokoll.
Der Mann alter Ehe-Ordnung führte einen frucht-
baren Gegensatz neuen Reizes zu ehelichen Hoff-
nungen. Marianne wurde als Eigen von ihrem
Erzeuger adoptiert. Als Seidenfaden von der Nach-
kur seiner erotischen Schwächungen heimkehrte,
war Siegfried bereits glücklich mit den Seinen
vereint. Ihre beiden guten Männchen sorgten,
daß rings um die junge Frau alles beim Alten
blieb. Sie behielt die überflüssigen Truhen, scheuß-
lichen Sofas, lächerlichen Nippes. Im Besuchzim-
mer lag ein Geschenk Siegfrieds zur Schau auf
schmalem Tischchen: Georges Teppich des Lebens
in Prachtausgabe. Ueber dem Teppich des Lebens
hing an der Wand das „Bettelmädchen" eines eng-
lischen Präraffaeliten. Fast entblößt in ärmlichen
Lumpen war die keusche Gliederpracht des
schönen Mädchens, das märchenhaft erhöht tronte,
vor ihm kniete König Kopheta, ein gepanzerter
Siegfried ähnlicher Ritter, den Helm vom kraus-
lockigen Haupt gehoben.
* *
*
Siegfried wurde Stadtverordneter. Die Jahre
verflossen in politischen Kämpfen und täglichen
Leitartikeln. Irgend ein Minister oder Junker warf
sein Knäuel unter die Kritiker, es rollte durch die
ganze Provinz, und jede Redaktionsstube schnitt
ihr Garn davon ab. Siegfried brauchte täglich
Anrempelungen, um die Landbevölkerung zu
weiden und die städtischen Genossen zu schärfen.
Eines Mittags gelangte die Kunde zu Siegfried,
daß der Bunte einkehren würde. Nahte Seiden-
faden, mußte der Redakteur sich eilig zum über-
windenden Ästheten wandeln. Es war nicht leicht,
sich über den geschwätzigen Zeitungsberuf aufzu-
schwingen, erst nach Stunden sauren Beisam-
menseins vermochte über Siegfrieds Schwatzsucht
das wirksame Schweigen Macht zu gewinnen, das
Seidenfaden liebte als Vorstufe zur Verlautbarung
höherer Einsichten an Wohlmeinende, aber geistig
Tiefstehende. Seidenfaden genügte es, im Niedren
den Funken zu wecken.
Stumm verdrossen drückte sich Seidenfaden
auf dem Sofa zwischen Sine und Gabriele. Ge-
mütlich weiß gedeckt war der Kaffeetisch. Frau
Gabriele reichte Likör, Siegfried rauchte Zigaretten
um den Kaffee abzurunden, und Seidenfaden ent-
wickelte ein spitziges Gespräch. Er streichelte
beim Sprechen Sinens Haupt, und tauschte mit
beiden Frauen beredte Blicke. In diesem Augen-

blick gedachte er der Nacht, die er ritterlich zwi-
schen beiden Frauen geschlafen hatte. Aber er
schwieg, und die Familie zagte vor der Stumm-
heit der Gäste.
Da stürzte Siegfried in die hemmungslose Er-
zählung des berühmten Wahlrechts-Umzuges, den
er jüngst an einem Sonntag durch die Stadt ge-
führt hatte. Nach wochenlanger Rede- und Leit-
artikelzurüstung waren Stadt- und Landkreis
kämpferisch entflammt. Am bestimmten Vormit-
tage versammelten sich die Genossen zu langen
Zügen und schwenkten dann von überall in die
Hauptstrasse der Stadt: sonntäglich angekleidet,
ihre Frauen untergefaßt, die Kinder an der Hand,
in Reihen zu Vieren, nach Bezirken geordnet, mar-
schierten die Demonstranten hinter ihren Papp-
tafeln mit den Wahlrechtslosungen und den ge-
schmückten Fahnen. Brausend sang das Wahl-
rechtsheer die „Internationale", und Siegfried an
der Spitze gab in bestimmten Augenblicken nach
der Uhr die Losung mit brüllender Stimme aus,
und der Ruf strömte donnernd die ganze Haupt-
strasse entlang unter Hüte- und Bannerschwen-
ken: „Her das allgemeine, direkte, geheime Wahl-
recht!"
Die dröhnende Masse rückte vorwärts bis Mi-
litär von der Garnison mit unbeweglicher Drohung
den Marsch absperrte. Siegfried begab sich als
Parlamentär zum Leutnant, der den entblößten
Degen gesenkt hielt, und begann über ruhigen
Durchlaß zu verhandeln. In diesem Augenblick
wurde aus allen Stockwerken der Häuser in der
Hauptstrasse ein Wolkenbruch wunderlicher Wurf-
geschosse auf den Wahlrechtszug entladen: von
Fenster- und Balkonbrüstungen wälzte die mili-
tante Weiblichkeit einen Sturmregen von Töpfen
mit Erde, Kartoffelschalen, Kaffeetassen, zer-
brochenen Tellern, Blechschalen, faulen Aepfeln
und Eiern, es regnete Petroleum und anderes
Flüssiges auf Siegfried, sogar der Offizier kam
in Gefahr, besudelt zu werden. Es war Siegfrieden
zu Mute, als tobte der ewige Fafner, Gott des
bürgerlichen Besitzes wider die kärgliche Frei-
heit. Mit einem, Zauberschlag löste sich der Wahl-
rechtszug auf, denn Jeder fürchtete für den Sonn-
tags-Anzug. Das Militär nahm lachend Siegfried in
die schützende Mitte und führte ihn behutsam
zur Wache. Beim Einbruch der Dunkelheit durfte
er unbehelligt zu Frau Gabrielen heimkehren.
In der Stadtverordneten-Versammlung nach die-
sem Lustspiel durfte Siegfried den berühmten Hin-
weis tun: er habe festgestellt, daß im Hof der
Kaserne zwei Kanonen bereit gestanden hätten,
um nötigenfalls auf das Volk zu schießen. Sieg-
fried vergaß, hiernach vor den Stadtvätern den
Dank des Volkes auszusprechen, den es der mili-
tanten Weiblichkeit schuldete für ihre prächtige
Beschießung mit harmlosen Töpfen, Aepfeln und
Asche mit Koks.
* *
*
Seidenfaden hatte sauer zugehört. Kein Laut
von Billigung oder Tadel war seinem Denkdäm-
mer zu entlocken.
Nach dem Abendbrot beanspruchte Frau Ga-
briele, mit Marianne schlafen gehen zu dürfen. Sie
lud die lieben Gäste ein, fürlieb zu nehmen und
zur Nacht zu bleiben. Die lieben Gäste nahmen
dankend an. Gabriele rüstete das Ruhebett in der
kleinen Stube neben Siegfrieds Arbeitszimmer.
Siegfried blieb mit seinem Besuch im gaser-
leuchteten Arbeitszimmer zigarettenrauchend und
witzelnd. Auf dem, Divan lag Sine an Seiden-
faden hingegossen, der ihren Busen umschlang.
Sie kokettierte munter mit Siegfried und schmach-;
tete zum Bunten auf.
Es war die Zeit, da man den russischen Roman

„Szanin" las! Den kreuzweis besessenen Seiden-
faden ließ die dürre Versuchung nicht los, seine
Liebste einem durchschnittlich begabten Freunde
nackt zu zeigen und ihre erotische Wirkung zu
erforschen. Stunde und Gelegenheit waren gün-
stig. Gabriele schlief den eheweiblichen Schlaf,
die Tür zum Flur würde zugeschlossen. Sine
würde den wunderbaren Stolz erleben, nackt bei
ihren Freunden zu verweilen, ohne die konven-
tionelle, häßliche Eifersucht fürchten zu brauchen.
Und Siegfried? Die Sozialdemokratie verlangte
freie Geschlechtswahl, das Recht der Entwicke-
lung für die Frau. Würde Siegfried die Freiheit
ip ihrer vollen Wirklichkeit zu ertragen fähig
sein? Darauf kam es jetzt an. Seidenfaden war
der Gelüste seiner Freunde sicher.
Siegfried tat alles nach Wunsch: schloß Tür
und Vorhänge, löschte das Gaslicht, entzündete
die Wandleuchter. Seidenfaden rückte den Divan
in die Mitte, stellte die nie brennenden Kerzen rings
zu Häupten und bat Siegfried, ein Weilchen hin-
term Vorhang der kleinen Stube zu verschwinden,
wo Gabrielens Gastbett duftend weiß auf den
lieben Besuch wartete.
Seidenfaden flüsterte mit Sine. Versonnen
lauschte Sine und bemühte sich, den tiefen Zu-
sammenhang seines wunderlichen Planes zu be-
greifen, sie bewunderte den Bunten mehr denn je.
Der kupplerische Trieb entflammte das Weibchen
und es hauchte ein unbedenklich „Ja!" Jetzt ver-
ließ auch Seidenfaden die Liebste zu ihrer Ver-
wandlung.
Die jungen Leute flüsterten in der Gaststube.
Das junge Weib entkleidete sich im Ringe der
brennenden Kerzen, deckte ihre Kleider samt den
korrigierenden Apparaten mit einem Teppich zu
und legte sich nackt auf den Divan, den Seiden-
faden mit einem weichen Seidenteppich verhüllt
hatte. Sie streckte die Beine aus, legte sich auf
die linke Hüfte und hörte ihr Herz aufgeregt
schlagen. Ihr in eine süße Schneckenfrisur ge-
rahmtes Haupt stützte sie nachdenklich mit dem
Arm. Sie bemühte sich, einen Eindruck hervor-
zurufen, der die bunte Mitte hielt zwischen
Pauline von Borghese in Marmor von Canova und
Ingres Odaliske im Lxmvre.
Sine hatte stets Lust, sich zur Schau zu stellen
und nackt bewundern zu lassen. In Seidenfadens
Himmel aus Indigo und Wolkenweiß lebte sie
immer nackt und schmiegte ihre Nacktheit in allen
Posen an den Bunten. Die Kerzen besonnten mit
dunklem warmem Schein die neue Luzinde, die
ein Schlegel unserer Zeit als ästhetisches Schau-
gericht preisgab. Helle Glieder, dunkle Leibesmale
der intimen Liebe standen Siegfrieds Blicken frei!
Es gibt asiatische Stämme, die ihren Gästen
einfältig die eigene Frau ins Bett zum Beilagei
einer Nacht schenken. '
Auf der Höhe der Kultur errang Seidenfaden,
der Erste Aller in der Liebe, die Ueberwindung
der Eifersucht, den einfältigen Sieg des Nomaden.
Er vollbrachte, glücklich begabt, die Krönung der
männlichen Liebe und „aß nicht die bittere Wur-
zel". Er wies die gewalttätige Fesselung des
weiblichen Selbstes von sich, er geriet nicht in die
listige Fallgrube der Ehe mit ihren spanischen
Reitern, er gab dem Weibe seine Freiheit, seine
ethische Selbstbestimmung, stellte und legte sie
auf eigene Füsse.
Fortsetzung folgt

BruckfeMerberiehtigiing
In dem ersten Gedicht von Wilhelm Runge /
Oktober-Heft / 1916 ist zu lesen:
Erste Zeile: Blut flieht
In der letzten Zeile: Vogel schein

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