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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Fünftes Heft
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Ernst, Max: Vom Werden der Farbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0073
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Tätigkeit, Geistigkeit, Schöpfung. Rot ist Entfärbung, Ent-
schleuderung aller Farbentätigkeit, Zeugen Bewegen.
Farben der Bewegung: Gelb und das Zelt Blau waren, als
der mechanisch-wollende Geist, der heute Delaunay will, die
doppelte Bewegung bestimmte. Weißes Licht strahlt Gelb,
Kosegüte und Gleißen, Wärme und Pfeil. Blau flieht zur to-
talen Raumtotheit, Schwarz oder Kaltmond, Totmond. Auf
der Kugel schied das fluchtblaue Meer von der arbeitgelben
Wüste. Blau und Gelb sind erste Farbwerdung der polaren
Farbtotalitäten Finsternis und Licht, die maßlose Kugel Firma-
ment und die endliche Kugel Erde erste Formwerdung der
polaren Farben Blau und Gelb. Dann konnte die blaugelbe Ehe
geschehen: Grün, Pflanze, Vermehrung. Meer und Firmament
blieben das Symbol zum Geist, Erde das Symbol zum Menschen,
Pflanzen erstes Gebet, Vermählung.
Gelbe Strahlengüte glüht den Pflanzen ein Bluten zu
Blühen, zur Farbe Quellsprung Entfesselung Tanz, Insekten und
Buntvögeln in den Sinn. Die Farbe Bunt war toller als die
engen Fesseln und der eingeteilte Blatt-Takt, überbot das
Blühen zu Unbekümmertheiten um den Wechsel der Betonung
und die Verordnungen der Zeichnungsstrenge, ganz frei sich-
wollender Ueberhüpfung der Taktheiten: damit das Konzert
der Ungebundenheit tanze.
Den Geist band Gebundenheit an Pflanze, Leib, Eintags-
fliege. Tötung des Lebens aber ist nicht Befreiung. Form--
werdung, Ich-Behauptung des Willens ist Werden der Freiheit
und Aufgabe: Es ist leichter, sich als Fichte zu behaupten, denn
als Tiger oder Mensch.
Quallenbrüste überstülpen sich aus Moskau. Zwiebeln
bunten über weißer Stunde, östlichem Leben der russischen
Stadt. Kling klirren Gläser, Schellen, Scherben: Kandinskys
Farbentroika. Stränge streifen Striemen quer Peitschenrot.
Lyrisches greift aus, flügelt Fleckenflügel knall-husch, schwindet
Prestorot. Blaßblau und Rosa stimmen zarter mit. Gelb gell?
grellen Klang. Alle Farben garben los, hassen sich, vermählen.
Schwarzer Todfleck: Starren. Weißer Märchenrand: Baden.
In München sah er jährlich einen Wintermärchenschimmel, der
jetzt zweifellos tot ist. Denn auch seine andern deutschen
Freunde sind gefallen: der freundlich-farbige Macke und der
bengalische Marc.
Dies ist die Freiheit, die das Gesetzte uns ließ: schafft
Farben nach eurem Willen und Gleichnis. Habt Farben wie
Farbwollen und Farbwünsche.
Des Weibes Wünsche waren bald erledigt. Des Weibes
Wünsche waren immer nackt-rosa aus weißen Wellen- und
Spitzenschäumen. Mechanisch-lebendigste Kräuselspitzen ge-
baren schön-schäumend die frivol-Schaumgeborene der Grie-
chen. Geöffneter Tanz, Cancan Tanguy Pan-Pan Tanguinette,
schmeißt Fleischwünsche aus weißem Quirlen und tollem Gischt
in Gieraugen. Manchmal blitzt flitz-schnell gemein-Rosa.
Aederchen zweigen kaum-bläuliches Gezweige, fingern flattere
F euchtberührungswünsche.
Rosa: gepuderte Blutwünsche. Das Weib bekennt Farb-
seele in Verbindung mit der Leibmaterie und dem Geschlecht:
das Weibchen liebt das Buntere, weil das Männchen bunter
ist. Das Weib erkannte seine Wunschgrenzen im Rokoko. Seine
Erfindung ist Puder, Schönheitspflästerchen und Duft. Rosa
Zärtlichkeiten läßt sichs gern gefallen. Denn von Natur sind
Frauen blond.
Rosa pudert schamhaft gegen Rot. Brutal roter Pfahl zer-
stößt einmal zum erstenmal das zarte Geweide zu verkrampf-
tem Süßweinen. Dann wenn die Frauen Mutter sind, färbt
das Rosa sanftere Milch, schönere Scham, liebere Liebe, milche
Gabe. Die himmlische Mutter im Mittelalter spritzte dem heili-
gen Mönch ihr Milchgeschenk.
Reinstes Gestaltungswerk wirkt der wirkliche Geist.

Entfaltung, grande rosasse. Kathedralen entprachten die
große Rose, entsprühen alle Stärkegluten, frohfarbgewiß
wissend, daß sie innen behutsamen den fruchtbar-süßen Leib-
kern. Jungfrau Marie durchsplittert die splitterbunte Liebe,
himmlisches Licht. Anbeteten in allen Liebfarben brave irische
Mönche, frechliebe Jungen, frommbunte westfälische Maler.
Nachmittaghafte Liebe sanft lilat Erbsenblüte in braunen Spitz-
mündchentönen vor goldenem Leuchten. Mutter Marie läßt
sich vom lammfrommen König Severin stillfarbe altgoldbestickte
Geschenke gefallen. Oft muß sie auf Bildern sterben. Den ver-
liebtesten vlämischen Maler wirrt das zum erstenmal ins Irren-
haus der Farben. Oft stirbt der Sohn bei Abendfarben, steht
am Sonntag in Trompetenfarben wieder auf.
Mittelalterbrauner Mönche Braun, sticke Bußascheglut,
zuchtgepeitschte Weltliebe, niedergegeißelter Lebenswille ent-
lud gewitternd in des elektrischen Griechen heiligen Ekstasen.
Feuer-Werk fährt Schlangenstraßen über Schlangen, Glieder
und Orangesprachen. Kaltblau glimmen elektrische Flämmchen
Toledo.
Braun ist, wo heißer Wille verbrannte: fruchtlosen Krieg
haßte die stiernackte Seele Goyas. Rote Fahne hitzte die Stiere
Goyas. Krieg ödet grünes Land grau.
Grau graut in alternden Straßen greiser. Boulevardlinden
suchen Grün und Pflanzlichkeit gegen Mauerkuben zu behaup-
ten. Grün wird violet und braun, bevor es Moder wird. Grau
verstaubt Cafes. Schlecht gelüftet morgengrauen Herzkammern.
Ueber Zigarrenkisten lagert Kopfschmerz Nikotinluft. Maser-
ungen brauner Möbel krachen, Mandel. Hungerformen kargen.
Harlekins erkälten sich an Blau und suchen sich an ihrer eigenen
Magerkeit zu wärmen. Sanfte Dirnenaugen frieren, graue
Eselinnen. Finger gehren Beerenbrüste. Entladungen ermüden
vorher.
Ein furchtbarer Farbblitz entfuhr dem Grabe Jesu Christi.
Geist Grünewalds war auferstanden, wetterleuchtet Mittel-
alter letzten großen Tod.
Reinem Farbgrundakkord fand aegyptische Furcht. Aegypter
gellten Gelb aus schreiender Wüste, brannten Ziegelrot aus
Glutdemut, holten Blaues vom Himmel. Erdgefärbter Grund-
zusammenklang, erdverführte Harmoniematerie. Als Terz er-
wachte Grün und wurde Lotos: der Akkord blieb klassisch.
! Chagalls Akkordreihen wurden kosmisch, leben Geburt aus
Hoffnung und Weiß, Leben in Städten, Tier und Prisma, Tod in
Sterben, Mond und Schwarz. Prismatische Farben keimen über
Weiß verborgenen Lebenswillen anderer, kommendes Fohlen
im runden Bauch, werdenden Stern im Mutterleib, in Mann und ,
Weib verschlossenen Trabant, Symposion. Aus Zitzen weißer
Güte quillt geborene Hoffnung Rot organischer Kräfte und
Prisma technischer Siege. Elektrische Mondprismen türmen
den gereckten Stahl an der Seine. Mann und Weib, Schwarz
und Licht entspiegeln. Lebensprismen. Lebendigstes grellt auf:
Rot; blökt, frißt, säuft.
Rot trompetet die Mitte zwischen den Polen: ist, selbst-
leuchtend, nicht vom Schwarz, nicht zum Weiß, ist glühe Ampel
auf dem Berg. Grün ist blühe Fruchtbarkeit im Tal, altes Dorf
und Haustier. Violet: bei Nachtschwarz die kalte Birne, die
Glutmittag in gelbe Gewitterangst überschlägt. Orange glühen,
Kobalt schmelzen: Morgen und Abend Ein Tag. Chagall schuf
den Farbenglutkreis, der die Schöpfungsgüte der Welt will.
Die couleurs simultanees erfand der Gott des alten Bundes
als Schutzmarke seines ewigen Bundes. Die Menschen konnten
den Bogen nur sehen. Delaunay gebot seinen Farben: eritis
sicut sol. Da wurden alle Kontraste gehorsam im Violet. Bogen-
lampenklarheit zeugt: Farbe ist unterwürfiger Blitz: Wunder
ihrer Haßfarben. Licht schließt. Dunkelblutender Schoß ohne
Scham. Dunkel prahlt Sterne. Abstoßung ist plötzlich Liebe
und Gegenzeugung in Gleichzeitigkeit der Kontraste. Polares
grüßt mit rundem Hut: Seid banale Sonne, Tag und Tag,
Eiffelturm und Schienenstrang. Pole aus außerzeitigen Gründen.
Farbe und Gegenfarben sind gegenseitig Gründe ihres Seins.

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