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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

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Zweites Heft
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Schreyer, Lothar: Der neue Mensch
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https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0025
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lebt vom Handelsgewinn der Gesellschaft.
Der Handel erzielt einen Gewinn durch die
Vermittlung der Güter. Wenn einer gewinnt,
muß ein anderer verlieren. Das Gut be-
kommt keinen höheren Wert durch den Han-
del. Der aufgeschlagene Gewinn ist eine
Werttäuschung. Wer die Gütervermittlung
für eine Leistung hält, die zu ungunsten des
Gutes bewertet werden muß, der leugnet,
daß jeder Alensch aus sich heraus ein Recht
am einzelnen Gut hat. Das ist das Recht des
Staates. Im Namen des Staates hat die Ge-
sellschaft eine Rechtsordnung geschaffen,
durch die sie sich sanktioniert. Daher straft
der Staat den, der sich, außerhalb der Gesell-
schaft stellt. Im Strafrecht wird das Recht
eine Strafe, und die Gesellschaft ahnt nicht,
daß sie damit ihr Recht widerlegt. Zur
Durchführung der Gesellschaftsordnung sind
dem Staat Beamte gegeben: die Staatsdiener.
In der Beamtenschaft ist die Verantwortungs-
losigkeit zum System erhoben. Nicht der
Diener, der Beamte, ist für seine Tat verant-
wortlich, sondern der Herr, der Staat. Aber
den Staat kann niemand zur Verantwortung
ziehen, da er ein Idol ist, wie der liebe Gott.
Im Namen dieser Idole schließen die Beam-
ten aller Länder Ententen und Völkerbünde.
Die Beamten können die Gesellschaft nicht
mehr retten, auch nicht, wenn sie ein Ober-
idol, einen Oberstaat hinzaubern. Es ist zu
spät.
Die Staaten zerbrechen.
Alle Menschen sollen frei sein.
Die Welt des Leidens zerbricht.
Die Ursache des Leidens ist der Machtwille,
der die Erde und ihre Güter erfaßt. Jeder
will alles haben. Der maßlose Daseinskampf
hat uns Alenschen schlecht gemacht. Alle
kämpfen gegen alle. Das Wort Mein und
Dein hat die alte Welt zur Hölle gemacht.
Alein Land, mein Haus, mein Weib, mein
Kind, mein Kleid, mein Brot. Das Wort
Alein und Dein trennt Alensch von Alensch.
Diese Trennung kann die Gesellschaft nur
überbrücken durch Geld oder die Liebe der
Geschlechter. Darum ist das Geld und diese
Liebe die Leidenschaft der alten Welt. Aber
die Leidenschaft schafft nur Leiden. Die
Trennung wird nur scheinbar überbrückt; sie
wird größer. Der eine vermehrt das Seine,
der andere verliert es. So wird Reich und
Arm, so wird Glück und Unglück. Die Welt-

wende zerbricht Arm und Reich, Unglück
und Glück,
Die Weltwende zerbricht die Leidenschaft
und Mein und Dein.
Der alten Welt Alachtwille zerbricht.
So werden die Menschen frei.
Wir werden frei.
Zahllose wenden sich ab von der alten Welt
und suchen die neue.
Viele gehen bewußt die Wege zur neuen
Welt und fühlen das Ziel.
In allen wird der neue Mensch.
Wir erkennen den neuen werdenden Men-
schen an seiner Tat. Seine erste Tat ist Ab-
kehr von der alten Welt. Er tut nicht mehr,
was die alte Welt von ihm fordert. Oft ist
sein Tun nur schüchtern. Denn vielen ist der
Weg schwer und ihre Kraft ist gering. Wir
haben mit ihnen Geduld, wenn sie mit sich
selbst keine Geduld haben. Einer hat er-
kannt, daß jede Wohltätigkeitsveranstaltung
schlecht ist und. lehnt nun jede Teilnahme
ab. Eine Frau hat erkannt, daß sie nicht
besser wird, wenn sie ihre Reize herausputzt,
und tut es nicht mehr. Einer weiß, daß die
Kirche keine Christen macht, und läßt sein
Kind nicht taufen. Einer sieht die Schlech-
tigkeit der Presse der Gesellschaft und liest
diese Presse nicht mehr. Das sind erste
kleine Schritte der Alenschen, die sich fort-
wenden von der alten Welt. Dann kommen
die entscheidenden Taten, durch die der
Alensch die alte Welt verläßt, sie in sich zer-
bricht und vergißt.
Völlige innere und äußere Abwende des
Menschen von der alten Welt und ihrer Ge-
sellschaft, Familie, Staat, Kirche, Kunst,
Wissenschaft, Moral, Bildung ist Voraus-
setzung für die Freiheit der neuen Welt.
Nun erleben wir die Stunde unserer Entschei-
dungen. Jeder von uns, der das Leiden der
alten Welt erkennt, steht unter der Verant-
wortung. Selbst tragen wir wieder die Ver-
antwortung der Welt: den Tod der alten, die
Geburt der neuen Welt.
Diese Stunde der Wende ist unsere Gegen-
wart. In ihr wird der neue Mensch.
Unsere Zukunft wissen wir nicht. Aber wir
ahnen das Ziel. Aber wir fühlen die Wegrich-
tung, in der wir treiben. Und wir machen
uns einen Weg urbar im Ungangbaren. Die
neue Tat unseres Lebens hat nichts gemein
mit den Taten, die wir vergessen haben. Der

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