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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

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Zweites Heft
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Schreyer, Lothar: Der neue Mensch
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https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0024

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Der neue Mensch
Lothar Schreyer
Wir Menschen sind Träger der Weltwende,
ihr Werkzeug, ihr Opfer.
In uns zerbricht die alte Welt. Die neue Welt
ersteht in uns.
Die Welt des Leidens, die Welt unseres Lei-
dens zerbricht.
Unsere Familie ist das Leiden.
Die Familie zerbricht. Wir fühlen den lauten
und stummen Haß der gefesselten Männer
und Frauen, die dumpfe Cewohnheitsgier der
Geschlechter. Jede Ehe ist gebrochen durch
jedes Begehren nicht angetrauten Leibes.
Jede Ehe ist Lüge. Darum fliehen die Kin-
der vor ihren Eltern. Daher schämen sich die
Eltern vor ihren Kindern. Daher kennt keine
Mutter, kein Vater das Kind. Darum ist
Kindheit Leiden. Eltern wollen das Kind
schaffen nach ihrem Bilde. Gebrechen wird
der Wille des Kindes durch Prügel, durch
Näscherei. Die verlorenen Söhne, die ver-
lorenen Töchter klagen an. Die Anklage ist
ihr willenloses, ihr unterjochtes Leben.
Frei sollen Kinder sein: Kind und Mann und
Weib.
Unsere Gesellschaft ist das Leiden,
ln der Gesellschaft gesellen sich die Men-
schen nicht. Wenige glauben Güter zu ha-
ben. Die Wenigen versklaven zahllose Men-
schen. Sklaven und Sklavenhalter sind
schlecht. Schlecht sind sie um Güter willen,
die keine Güter sind. Die Güter sollen die
gute Gesellschaft verschönen. Anklage ist
diese Schönheit, so schwer, daß niemals froh
werden kann, wer sie hört. Wir sind schul-
dig, Die Gesellschaft hört es nicht. Sie unter-
hält sich zu laut.
Der Mann hat einen Beruf. Er muß Geld
verdienen. Wer reich ist, kann alles haben.
Aber die Berufenen dienen und haben nichts
und bauen am neuen Reich. Die Frau putzt
ihre Reize. Wenn sie keinen Mann findet,
der ihren Reizen dient und für sie verdient,
muß sie selbst Geld verdienen. Und wenn
Mann und Frau nicht genug verdienen, müs-
sen die Kinder Geld verdienen. Die Arbeit ist
kein Segen. Die Arbeitsteilung, ins Unge-
messene gesteigert, hat die Arbeit zum Un-
segen gemacht. Der Taumel der Arbeit
stockt. Aber die Gesellschaft hört nicht das
Schuldig. Sic unterhält sich zu gut.

Diese Gesellschaft hat sich eine Wissen-
schaft gemacht. Diese Wissenschaft hat
längst bewiesen, daß ihre Gesellschaft die
vernünftige Entwicklung der Menschheit ist.
Aber das Entwicklungsgesetz, schon längst
brüchig, zerbricht.
Diese Gesellschaft hat sich eine Kunst
gemacht. Die Kunst verherrlicht die Men-
schen der Gesellschaft und verschönt ihr Da-
sein. Die armseligen Lügner belügen sich
selbst.
Diese Gesellschaft hat sich eine Kirche ge-
macht. Die Menschen nennen sich Christen
und reden von Glauben. Sie handeln wie der
Antichrist und glauben es nicht.
Diese Gesellschaft hat sich eine Moral ge-
macht. Durch diese Moral ist die Unsittlich-
keit Sitte geworden. Die Moral des Ge-
nusses, die Moral der Langeweile haben der
Gesellschaft den Lebenskünstler gegeben.
Der Lebenskünstler ist der Widersacher der
Menschheit.
Diese Gesellschaft hat sich einen ununter-
brochen redenden Anwalt gemacht: die
Presse. Die Presse erzeugt die öffentliche
Meinung des Hasses, der Betriebsamkeit, der
Oberflächlichkeit. Sie nimmt nichts ernst,
weil sie nichts weiß. Sie betreibt alles, weil
sie nichts kann. Sie lebt vom Haß, weil die
Liebe ihrer Gesellschaft ein geschlechtliches
Geunßmittel ist.
Diese Gesellschaft nennt sich gebildet.
Uns schaudert vor ihrer Bildung. Denn wir
haben sie mit unserem Leib gelitten. Darum
wollen wir gesunden von dieser Bildung. Lind
niemand mehr soll unter ihr leiden. Darum
muß diese Bildung fallen.
Die Presse und die Moral der Gesellschatt
zerbrechen.
Kirche, Kunst und Wissenschaft der Gesell-
schaft zerbrechen.
Die Arbeit, durch die diese Gesellschaft zu-
sammenhält, zerbricht.
Die Gesellschaft ist am Ende.
Alle Menschen sollen frei sein.
Frei sein, das heißt: nicht leiden.
Unser Staatswesen ist das Leiden.
Der Staat ist das Idol, von der Gesellschaft
nach ihrem Bilde geschaffen, der selbstein-
gesetzte Gott. Seine Heiligkeit ist verab-
redet. In seinem Namen werden die Kinder
zwangserzogen, daß die ungemessene Ar-
beitsteilung ihnen heilig werde. Der Staat

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