Nichts tötet schneller als
Lächerlichkeit
Kurt Schwitters
So wollen wir uns heute einmal Herrn
Felix Neumann „ergreifen". „Nichts tötet
schneller als Lächerlichkeit", schreibt er.
Aber mein Herr, Sie begehen ja Selbstmord!
Haben Sie denn Ihren Artikel in der Post
vom 6. Januar 1920 nicht gelesen? Der reinste
Selbstmord! (Nichts tötet schneller als
Lächerlichkeit.) Ich citiere wörtlich: „Die
Umrisse aller Begebenheiten sind ins
Ungeheuerliche gerückt". Wir wollen uns
einmal diesen einen Satz „ergreifen", heute
einmal. Was haben Sie sich wohl dabei
gedacht? (Damenringkampf mit Turbinen.)
Ach, zeigen Sie mir doch bitte einmal den
Umriss einer Begebenheit, oder einen ins
Ungeheuerliche gerückten Umriss. (Die
Frau ist doch schliesslich auch kein Räder-
werk!) Ergreifen wir uns einmal den
nächsten Satz: „Alles Alte, ehrwürdig
Überlieferte liegt auf dem Kehrichthaufen."
Sagen Sie mal, Herr Neumann, gehören
Sie auch zum ehrwürdig Überlieferten?
Dann wollen wir lieber fortfahren. Sie
treiben also sozusagen „Schindluder" mit
Anna Blume. (Preisfrisierwettbewerb mit
Salonmusik.) (Er hat en Bullen gemolken.)
Sie sagen, ich nagte mit tausend Gesinnungs-
genossen an den Wurzeln unserer Kraft.
(Ein schönes Bild.) Sie meinen wohl:
Ihrer Kraft? Nein, millionenmal nein, ich
nage nicht, seien Sie unbesorgt, ich bin
keine Ratte und Sie sind kein Baum. Ich
wüsste auch garnicht die Wurzeln ihrer
Kraft zu finden. Ausserdem würde ich
auch meinen Weg allein nagen, ohne
tausend Mitnager. Aber ich bin kein
Nagetier, sondern man nagt mich an.
Wollen Sie wohl gleich aufhören, mich
anzunagen, sonst mache ich Sie lächerlich,
jawohl! Ich mache Sie sonst lächerlich.
Sie wissen doch, das tötet. (20 Jahr, da
stand der Schwanz noch kerzengerade hoch,
30 Jahr, da hat er schon en Bogen.) Ich
brauche bloss abzuschreiben, was Sie selbst
geschrieben haben, das genügt. Ich brauche
bloss Ihre eigenen Worte, „auf den Bücher-
markt zu werfen", ich brauche Sie garnicht
erst „in den dadaistischen Dichterschlund"
zu reissen. (Und meine Zähne sind so
teuer gewesen.) Sie meinen, dass „Schmutz
in Wort und Bild tonangebend wurden."
Mein Herr, Ihre Art zu kritisieren, wird
nie tonangebend werden, nichts tötet
schneller als Lächerlichkeit. Sie meinen
aber, diese trüben Erscheinungen wären
nur „vorübergehend". Da muss ich aller-
dings widersprechen. Kritiken, wie die
Ihrigen, „vernichten" (Schmutz in Wort
und Bild) zu tausenden unter Ausnutzung
der jetzt günstigen Konjunktur den Rest
von Feingefühl im deutschen Volke und
unterhöhlen den Baum der Kunst. .Aber
nichts tötet schneller als Lächerlichkeit."
Und der Baum der Kunst ist eine Schlange
(fein, was?) mit tausend Köpfen am Fusse
und wenn Sie einen abgenagt haben, dann
wachsen tausend Zehen aus jedem Hühner-
auge seiner Wurzeln, und das ist schlimm
für Sie. Denken Sie doch nur, wenn der
Baum der Kunst ein Pflaumenbaum wäre,
der Sie einzeln vor den Richterstuhl
schleppte („und in Ihrer ganzen traurigen
Erbärmlichkeit zerpflückte") und dem
Gespött überlieferte. („Und — dem Gespött
überlieferte".) Mein Herr, ich muss lachen,
ich kann nicht mehr ernsthatt schreiben.
Gleich beisse ich doch die letzte haltende
Wurzel durch. „Vorsicht, sonst fällste!"
„Am meisten zu bedauern ist aber das
deutsche Volk, dem moderne Kritiker so
etwas zu bieten wagen." Es erübrigt sich,
auf Einzelheiten einzugehen. „Lassen Sie
sich man keenen Dachziegel aufen Kopp
lallen." Also, nichts für ungut!
Inhalt
Otto Nebel: Zuginsfeld
Herwarth Waiden: Der letzte Despot von
Cotta
Lothar Schreyer: Totentanz
Willy Knobloch: Gedichte
Kurt Schwitters: Nichts tötet schneller als
Lächerlichkeit
Marc Chagall: Zeichnung
Stanislaw Kubicki: Zwei Linoleumschnitte /
Von der Platte gedruckt
Marc Chagall: Frau / Farbige Zeichnung
Februar 1920
157
Lächerlichkeit
Kurt Schwitters
So wollen wir uns heute einmal Herrn
Felix Neumann „ergreifen". „Nichts tötet
schneller als Lächerlichkeit", schreibt er.
Aber mein Herr, Sie begehen ja Selbstmord!
Haben Sie denn Ihren Artikel in der Post
vom 6. Januar 1920 nicht gelesen? Der reinste
Selbstmord! (Nichts tötet schneller als
Lächerlichkeit.) Ich citiere wörtlich: „Die
Umrisse aller Begebenheiten sind ins
Ungeheuerliche gerückt". Wir wollen uns
einmal diesen einen Satz „ergreifen", heute
einmal. Was haben Sie sich wohl dabei
gedacht? (Damenringkampf mit Turbinen.)
Ach, zeigen Sie mir doch bitte einmal den
Umriss einer Begebenheit, oder einen ins
Ungeheuerliche gerückten Umriss. (Die
Frau ist doch schliesslich auch kein Räder-
werk!) Ergreifen wir uns einmal den
nächsten Satz: „Alles Alte, ehrwürdig
Überlieferte liegt auf dem Kehrichthaufen."
Sagen Sie mal, Herr Neumann, gehören
Sie auch zum ehrwürdig Überlieferten?
Dann wollen wir lieber fortfahren. Sie
treiben also sozusagen „Schindluder" mit
Anna Blume. (Preisfrisierwettbewerb mit
Salonmusik.) (Er hat en Bullen gemolken.)
Sie sagen, ich nagte mit tausend Gesinnungs-
genossen an den Wurzeln unserer Kraft.
(Ein schönes Bild.) Sie meinen wohl:
Ihrer Kraft? Nein, millionenmal nein, ich
nage nicht, seien Sie unbesorgt, ich bin
keine Ratte und Sie sind kein Baum. Ich
wüsste auch garnicht die Wurzeln ihrer
Kraft zu finden. Ausserdem würde ich
auch meinen Weg allein nagen, ohne
tausend Mitnager. Aber ich bin kein
Nagetier, sondern man nagt mich an.
Wollen Sie wohl gleich aufhören, mich
anzunagen, sonst mache ich Sie lächerlich,
jawohl! Ich mache Sie sonst lächerlich.
Sie wissen doch, das tötet. (20 Jahr, da
stand der Schwanz noch kerzengerade hoch,
30 Jahr, da hat er schon en Bogen.) Ich
brauche bloss abzuschreiben, was Sie selbst
geschrieben haben, das genügt. Ich brauche
bloss Ihre eigenen Worte, „auf den Bücher-
markt zu werfen", ich brauche Sie garnicht
erst „in den dadaistischen Dichterschlund"
zu reissen. (Und meine Zähne sind so
teuer gewesen.) Sie meinen, dass „Schmutz
in Wort und Bild tonangebend wurden."
Mein Herr, Ihre Art zu kritisieren, wird
nie tonangebend werden, nichts tötet
schneller als Lächerlichkeit. Sie meinen
aber, diese trüben Erscheinungen wären
nur „vorübergehend". Da muss ich aller-
dings widersprechen. Kritiken, wie die
Ihrigen, „vernichten" (Schmutz in Wort
und Bild) zu tausenden unter Ausnutzung
der jetzt günstigen Konjunktur den Rest
von Feingefühl im deutschen Volke und
unterhöhlen den Baum der Kunst. .Aber
nichts tötet schneller als Lächerlichkeit."
Und der Baum der Kunst ist eine Schlange
(fein, was?) mit tausend Köpfen am Fusse
und wenn Sie einen abgenagt haben, dann
wachsen tausend Zehen aus jedem Hühner-
auge seiner Wurzeln, und das ist schlimm
für Sie. Denken Sie doch nur, wenn der
Baum der Kunst ein Pflaumenbaum wäre,
der Sie einzeln vor den Richterstuhl
schleppte („und in Ihrer ganzen traurigen
Erbärmlichkeit zerpflückte") und dem
Gespött überlieferte. („Und — dem Gespött
überlieferte".) Mein Herr, ich muss lachen,
ich kann nicht mehr ernsthatt schreiben.
Gleich beisse ich doch die letzte haltende
Wurzel durch. „Vorsicht, sonst fällste!"
„Am meisten zu bedauern ist aber das
deutsche Volk, dem moderne Kritiker so
etwas zu bieten wagen." Es erübrigt sich,
auf Einzelheiten einzugehen. „Lassen Sie
sich man keenen Dachziegel aufen Kopp
lallen." Also, nichts für ungut!
Inhalt
Otto Nebel: Zuginsfeld
Herwarth Waiden: Der letzte Despot von
Cotta
Lothar Schreyer: Totentanz
Willy Knobloch: Gedichte
Kurt Schwitters: Nichts tötet schneller als
Lächerlichkeit
Marc Chagall: Zeichnung
Stanislaw Kubicki: Zwei Linoleumschnitte /
Von der Platte gedruckt
Marc Chagall: Frau / Farbige Zeichnung
Februar 1920
157