Kunst und Leben
Herwarth Waiden
Das zehnte Jahr des Kampfes für die Kunst
beginnt. Einem Teil des Volkes der Denker
und Dichter ist es bewußt geworden, daß
seine Denker Dichter und seine Dichter Den-
ker sind. Wir nennen in diesem Jahrzehnt
die Kunst Expressionismus, um sie von dem
zu unterscheiden, was nicht Kunst ist. Es ist
uns durchaus bekannt, daß auch die Künstler
vergangener Jahrhunderte den Ausdruck
suchten. Sie konnten ihn nur nicht künstle-
risch gestalten. Und das Gestalten des künst-
lerischen Erlebnisses ist eben erst Kunst.
Kunst ist im vergangenen Jahrzehnt durch
wesentliche Künstler wesentlich offenbart
worden. Das haben nicht Zuviele gefühlt.
Eine größere Mehrheit will Kunst nun be-
griffen haben. Sie klammern sich an das
Künstlerische, Unfaßbare und glauben Kunst
gefaßt zu haben. Sie hängen sich sogar an
und nennen sich unsere Anhänger. Aber
Kunst bleibt unfaßbar. Und weil die Stange
nicht hält, die sie mit plumpen Fingern zu
halten glauben und die doch nur eine Bewe-
gung ist, fallen die Anhänger ab und schimp-
fen, weil sie wieder auf dem Boden liegen.
Und weil sie eben liegen, gehen sie nicht
mehr mit. Immer finden sie ein Ende der
Kunst, nämlich ihr Ende. Sie halten etwas
von den Künstlern, an denen sie mit vieler
Mühe gelernt haben, sich zu halten. Sie kön-
nen eben nicht künstlerisch sehen und ver-
lieren vor jedem neuen Kunstwerk die Hal-
tung. Sie bilden zwar keine Kunstwerke,
dafür aber eine Mehrheit. Sie wollen jede
j neue Offenbarung erschlagen. Wenn auch
mit einer andern Offenbarung. Sie bilden
aus einem anerkannten aber nicht erkann-
ten Kunstwerk ein Dogma, an das sie glau-
ben können. Sie brauchen keinen Glauben
aber einen Glaubenssatz. Und den Satz kön-
nen sie nicht bilden, sie haben ihn auswendig
gelernt.
Kunst braucht keine Anhänger. Zierat ist
alienfallsTür den Tagesgebrauch. Und wenn
die Anhänger sich zieren, ist die Kunst da-
durch nicht schöner oder häßlicher gewor-
den. Anhänger zieren nur sich selbst. Wir,
in den Weltraum Geschleuderte, atmen
durch das Leben künstlerischer Bewegung.
Wir beugen uns immer wieder, Atome, vor
der Kunstgestalt der Kunstgewalt. legen
uns nicht vor einem Kunstwerk fest, uns
zwingt das Kunstwerk. Darum kämpfen wir
gegen die Persönlichkeiten, die sich etwas
Persönliches aus dem Kunstwerk holen wol-
len. Zu ihrem Vorteil und zu ihrer Zierde.
Wir dulden nicht, daß jemand sich am Kunst-
werk vergreife. Denn das Kunstwerk gehört
allen. Es ist nicht Eigentum des Einzelnen,
nicht einmal des Einzigen, durch den es auf
die Erde kommt.
Viele Künstler haben etwas versprochen und
dann versagt. Und zwar stets dann, wenn sie
etwas für sich tun wollen und nicht mehr für
die Kunst. Man kann sich eben nicht der
Kunst bedienen. Sie ist blind, will man sich
in ihr spiegeln. Sie verschwebt, will man sie
begreifen. Und die Künstlerpersönlichkeit
hat ein paar arme Farben in der Hand oder
ein paar Wörter in dem Mund.
Kunst ist weder.sinnig noch unsinnig. Sie ist
absinnig. Radikale Dilettanten wollen es mit
dem Blödsinn schaffen. Aber auch blöde
Sinne sind noch immer Sinne. Das sollten
die radikalen Dilettanten bedenken, um so
mehr, als ihr Blödsinn nur Gedachtes ist.
Die armen {Künstler stellen wirtschaftliche
Forderungen. Wirtschaftliche Forderungen
haben nur die Armen zu stellen, nicht die
Künstler. Es ist ein Größenwahn der Künst-
ler, für sich mehr Rechte oder besondere
Rechte zu fordern als jeder Volksgenosse,
Wir fordern die Freiheit der Kunst vor dem
Leben. Wir müssen uns aber auch die Frei-
heit des Lebens vor der Kunst verbitten.
Wie kommt die Kunst zum Volke, das heißt
zur Gesamtheit. Das ist eine wirtschaftliche
Frage. Und zwar eine wirtschaftliche Frage
des Volkes und nicht der Künstler. Die
Kunst braucht Zeit, Sie braucht Zeit, weil
sie zeitlos ist. Man muß Zeit haben, um
zeitlos zu sein. Deshalb bedeutet der Acht-
stundentag mehr für die Kunst, als die Aus-
setzung von Staatsgeldern für einige soge-
nannte Genies! Die Kunst ist nämlich nicht
so liberal, den Anreiz des Gewinnes zu ihrer
Sichtbarwerdung zu brauchen. Kunst wird
sichtbar stets und nur durch den Trieb. Der
Trieb ist niemals auf der Erde bezahlt wor-
den, Und jeder Trieb ist stets in die Erschei-
nungswelt getreten gegen jede menschliche
Gewalt, sogar gegen jede ästhetische Kultur.
Die Künstler und die Kunstinteressierten
Herwarth Waiden
Das zehnte Jahr des Kampfes für die Kunst
beginnt. Einem Teil des Volkes der Denker
und Dichter ist es bewußt geworden, daß
seine Denker Dichter und seine Dichter Den-
ker sind. Wir nennen in diesem Jahrzehnt
die Kunst Expressionismus, um sie von dem
zu unterscheiden, was nicht Kunst ist. Es ist
uns durchaus bekannt, daß auch die Künstler
vergangener Jahrhunderte den Ausdruck
suchten. Sie konnten ihn nur nicht künstle-
risch gestalten. Und das Gestalten des künst-
lerischen Erlebnisses ist eben erst Kunst.
Kunst ist im vergangenen Jahrzehnt durch
wesentliche Künstler wesentlich offenbart
worden. Das haben nicht Zuviele gefühlt.
Eine größere Mehrheit will Kunst nun be-
griffen haben. Sie klammern sich an das
Künstlerische, Unfaßbare und glauben Kunst
gefaßt zu haben. Sie hängen sich sogar an
und nennen sich unsere Anhänger. Aber
Kunst bleibt unfaßbar. Und weil die Stange
nicht hält, die sie mit plumpen Fingern zu
halten glauben und die doch nur eine Bewe-
gung ist, fallen die Anhänger ab und schimp-
fen, weil sie wieder auf dem Boden liegen.
Und weil sie eben liegen, gehen sie nicht
mehr mit. Immer finden sie ein Ende der
Kunst, nämlich ihr Ende. Sie halten etwas
von den Künstlern, an denen sie mit vieler
Mühe gelernt haben, sich zu halten. Sie kön-
nen eben nicht künstlerisch sehen und ver-
lieren vor jedem neuen Kunstwerk die Hal-
tung. Sie bilden zwar keine Kunstwerke,
dafür aber eine Mehrheit. Sie wollen jede
j neue Offenbarung erschlagen. Wenn auch
mit einer andern Offenbarung. Sie bilden
aus einem anerkannten aber nicht erkann-
ten Kunstwerk ein Dogma, an das sie glau-
ben können. Sie brauchen keinen Glauben
aber einen Glaubenssatz. Und den Satz kön-
nen sie nicht bilden, sie haben ihn auswendig
gelernt.
Kunst braucht keine Anhänger. Zierat ist
alienfallsTür den Tagesgebrauch. Und wenn
die Anhänger sich zieren, ist die Kunst da-
durch nicht schöner oder häßlicher gewor-
den. Anhänger zieren nur sich selbst. Wir,
in den Weltraum Geschleuderte, atmen
durch das Leben künstlerischer Bewegung.
Wir beugen uns immer wieder, Atome, vor
der Kunstgestalt der Kunstgewalt. legen
uns nicht vor einem Kunstwerk fest, uns
zwingt das Kunstwerk. Darum kämpfen wir
gegen die Persönlichkeiten, die sich etwas
Persönliches aus dem Kunstwerk holen wol-
len. Zu ihrem Vorteil und zu ihrer Zierde.
Wir dulden nicht, daß jemand sich am Kunst-
werk vergreife. Denn das Kunstwerk gehört
allen. Es ist nicht Eigentum des Einzelnen,
nicht einmal des Einzigen, durch den es auf
die Erde kommt.
Viele Künstler haben etwas versprochen und
dann versagt. Und zwar stets dann, wenn sie
etwas für sich tun wollen und nicht mehr für
die Kunst. Man kann sich eben nicht der
Kunst bedienen. Sie ist blind, will man sich
in ihr spiegeln. Sie verschwebt, will man sie
begreifen. Und die Künstlerpersönlichkeit
hat ein paar arme Farben in der Hand oder
ein paar Wörter in dem Mund.
Kunst ist weder.sinnig noch unsinnig. Sie ist
absinnig. Radikale Dilettanten wollen es mit
dem Blödsinn schaffen. Aber auch blöde
Sinne sind noch immer Sinne. Das sollten
die radikalen Dilettanten bedenken, um so
mehr, als ihr Blödsinn nur Gedachtes ist.
Die armen {Künstler stellen wirtschaftliche
Forderungen. Wirtschaftliche Forderungen
haben nur die Armen zu stellen, nicht die
Künstler. Es ist ein Größenwahn der Künst-
ler, für sich mehr Rechte oder besondere
Rechte zu fordern als jeder Volksgenosse,
Wir fordern die Freiheit der Kunst vor dem
Leben. Wir müssen uns aber auch die Frei-
heit des Lebens vor der Kunst verbitten.
Wie kommt die Kunst zum Volke, das heißt
zur Gesamtheit. Das ist eine wirtschaftliche
Frage. Und zwar eine wirtschaftliche Frage
des Volkes und nicht der Künstler. Die
Kunst braucht Zeit, Sie braucht Zeit, weil
sie zeitlos ist. Man muß Zeit haben, um
zeitlos zu sein. Deshalb bedeutet der Acht-
stundentag mehr für die Kunst, als die Aus-
setzung von Staatsgeldern für einige soge-
nannte Genies! Die Kunst ist nämlich nicht
so liberal, den Anreiz des Gewinnes zu ihrer
Sichtbarwerdung zu brauchen. Kunst wird
sichtbar stets und nur durch den Trieb. Der
Trieb ist niemals auf der Erde bezahlt wor-
den, Und jeder Trieb ist stets in die Erschei-
nungswelt getreten gegen jede menschliche
Gewalt, sogar gegen jede ästhetische Kultur.
Die Künstler und die Kunstinteressierten