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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

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Neuntes Heft
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Walden, Herwarth: Der Denker
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Blümner, Rudolf: [Der in weitesten Kreisen bestbekannte Kunstkritiker]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0140

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Kunst die ganze Zerfahrenheit der Zeit aus."
Herr Worringer stellt sich die Kunst tatsäch-
lich sehr ruhig dar, wenn er die Zeit für seine
eigne Zerfahrenheit verantwortlich macht.
,,Er führte als Beispiel eine alte Petrus-Figur
an und stellte hierzu im Gegensatz den irren-
den Ritter von Kokoschka. Beide sollen den-
selben Gedanken zum Ausbruch bringen.
Aber während der eine Gott sucht, weil er
ihn hat, ist der andere ein Gottsucher, weil
er Gott noch nicht hat!" Man darf wohl an-
nehmen, daß Herr Professor Worringer sich
bei den beiden Herren Künstlern persönlich
unterrichtet hat, welchen Gedanken sie zum
Ausdruck bringen wollten, denn sonst könnte
er nicht behaupten, daß Gotthaben und Gott-
suchen derselbe Gedanke ist. Kokoschka hat
also Herrn Worringer erklärt, daß er Gott
sucht, weil er ihn leider nicht hat und daß
seine Absicht war, das Gotthaben auszu-
drücken. Der andere Künstler der alten Pe-
trusfigur hat hingegen Herrn Worringer er-
klärt, daß er Gott hat und ihn deshalb sucht.
Dem alten Künstler glaubt es der Herr Wor-
ringer, dem jungen Künstler kann er den
Glauben nicht beimessen. Wegen der Zer-
fahrenheit der Zeit. Herr Worringer glaubt
jedenfalls in vollem Ernst, daß die Kunst die
Aufgabe habe, Gedanken von professoraler
Höhe auszudrücken und sie ruhig darzu-
stellen. Wenn das keine Einfühlung ist, so
ist es noch weniger Abstraktion. Aber Herr
Worringer ist sehr vorsichtig. Er beschränkt
sich. Wenigstens teilt die Presse mit, daß
Herr Worringer ,,sich auf einige Randbemer-
kungen zu dieser Kunstrichtung in seinem
Vortrag über Expressionismus beschränkt
habe, weil nämlich diese Kunstrichtung noch
vollständig im Flusse sei." Die alte Kunst
schwimmt bereits aus einer einheitlichen An-
schauung, während die neue Kunstrichtung
noch im Flusse ist. Herr Worringer hingegen
schwimmt über den Wassern und untersucht
gedanklich, was auf dem Flußboden liegt.
Das was er ausgedrückt hat, ist ihm Ex-
pressionismus. Aber er kann auch den Ku-
bismus expressionistisch ausdrücken: ,,Der
Kubismus ist eine Kunst, in der der absolute
Raum sozusagen musikalisch malerisch ge-
staltet werden soll. Das französische kubi-
stische Bild deutet Worringer als rauschende
Fuge absoluter Raumkristaile. ' Das ist zwar
sozusagen Unsinn, aber es hört sich mystisch

an. Herr Worringer klebt eben an den Ge-
genständen fest, die im Flusse liegen. Die
Fuge ist ihm offenbar ein farbiges Bild pro-
fessoraler Zeitkristalle. Bach soll ihm gesagt
haben, daß er Gott hat, während Gustav
Mahler ihm erklärte, daß er wegen der Zer-
fahrenheit der Zeit erst Gott sucht. Beide
Künstler wollten also wieder einmal densel-
ben Gedanken ausdrücken. Kubistisch ge-
sprochen, der Verstand des Herrn Worringer
hat sich absolut in eine Fuge zerfahren, wäh-
rend ihm die Fuge über den leer gewordenen
Platz auf dem Kopfboden rauschend davon-
flieht. Herwarth Waiden


Der in weitesten Kreisen bestbekannte
Kunstkritiker^^* hat im ,,Schwäbischen Mer-
kür" über eine Sturm-Ausstellung der,,I.Jecht-
Gruppe" im Württembergischen Kunstverein-
Stuttgart einen Bericht erstattet. Ich bringe
den Artikel hier zum Abdruck, um. dem *jj*
und der Redaktion des ,Schwäbischen Mer-
kur" Gelegenheit zu geben, ein Verfahren
wegen unbefugten Nachdrucks anzustrengen.
,,Stuttgart, 3. Nov. Die ,,Uechtgruppe", wie
unsere Schwaben sich nennen, hat ein von
dem Architekten Richard Herr (oder wie er
heißt — ich kann leider noch immer nicht
orthographisch lesen) verfaßtes Vorwort zu
ihrem Bilderkatalog herausgegeben. Die
Entstehung der neuen Kunst in Paris ist
darin richtig angegeben. Stimmt sogar wört-
lich. Ich war damals persönlich in Paris und
habe manchesmal mit Pissaco gefrühstückt.
Wie oft habe ich über den Bulwar de Sitaliän
gerufen: ,,Servus Gläs!" und Lösche habe ich
selbst manchen konkubistischen Tip gege-
ben. Den gelegentlich verstorbenen Drama-
tiker William Apollini nannte ich sogar Willi
schlechtweg. Daß durch Franzosen und
Russen eine deutsche Kunst entstanden sei,
ist für den etwas unbegreiflich, der noch
nicht allen Zusammenhang mit der Natur ab-
geschworen hat. Denn ich begreife nicht,
wie Franzosen und Russen deutsche Kunst
machen können zu einer Zeit, in der ich
täglich vier bis fünf Mahlzeiten zu mir
nehme und das Gras sogar im Winter wach-
sen höre. Auch in anderer Hinsicht sagt der

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