Die neue Kunst
Lothar Schreycr F.rts.tmmE
Der Rhythmus kann sich spiralförmig öffnen
und schließen, kann aufsteigen und absteigen.
Es kann alle Zwischenstufen des Grundrhyth-
mus des Werkes und unzählige Verbindun-
gen geben. Die Oeffnung der Fläche, Fen-
ster und Tür, kann als schwarze Farbe, als
Pause im Rhythmus oder als bunte Farbe der
Fläche eingefügt sein. Die Bauwerke haben
durchsichtige und undurchsichtige Wände,
wo sie künstlerisch notwendig sind. Durch-
sichtig kann jede Wand werden, auch eine
Außenwand, die nicht Fenster oder Tür ist,
auch eine Zimmerwand. Die durchsichtige
Wand kann Farbform sein. Die Farbe ist
ein Licht. Das Innere und Aeußere des Hau-
ses leuchtet, natürlich oder künstlich. Die
Bewegung des Lichtes ist rhythmisch geglie-
dert. Das Tagb'ld des Bauwerkes ist ein
anderes wie das Nachtbild des Bauwerkes.
Die Bauwerke haben bewegte Flächen über-
all dort, wo es die künstlerische Notwendig-
keit verlangt. Es ist möglich, daß sich auch
andere Flächen als Türen und Fenster im
Inneren und Aeußeren der Häuser bewegen.
Es gibt wandelnde Zimmer. Es gibt schwe-
bende Bauwerke. Das Gesicht des Bau-
künstlers ist nicht nur eine Sehvorstellung
und Bewegungsvorstellung, sondern auch
eine Hörvorstellung. Es g bt tönende Bau-
werke. Schwebende Häuser klingen, wan-
delnde Zimmer tönen und die reglosen Zim-
mer beginnen um uns zu rauschen, uns tief
zu versenken. Das Bauwerk ist keine Raum-
gestaltung, sondern eine Verne'nung des
Raumes, daß unser Selbst einzugehen ver-
mag ins Raumlose.
* *
*
Den Musiker hat die nichtkünstlerische Zeit
am wenigsten töten können. Auch die Mehr-
zahl derer, die heute unsere Kunstwerke ab-
lehnen, snd sich bewußt, daß das Schaffen
des Musikers und sein Werk von keinem
Verstand und von keinem Gefühl ermessen
werden kann. Und es wird kaum einen Men-
schen geben, der nicht einmal beim Klingen
der Musik alles um sich vergaß, sich
selbst und seine Leiden vergaß, einging in
ein Nichtwissen. Wer das erlebte, wird die
Augenblicke des Versunkenseins immer zu-
rücksehnen. Er mag ahnen, daß uns jedes
künstlerische Erlebnis dorthin führt. Er mag
fühlen, daß aus solchem Erlebnis jede Kunst-
gestalt, nicht nur das Tonwerk, quillt. Er
soll erkennen, daß solches Erleben im Leben
die Erlösung vom Leben bringt.
Der Tonkünstler gestaltet sein Gesicht m't
den reinen Tönen und deren Verbindungen.
Jedes Tonwerk hat sein eigenes rhythmi-
sches Gesetz. Die Tonwerke stellen nichts
dar. Die Programmusik ist eine Erfindung
der Kunstverständigen. Die Kunstverstän-
digen haben sogar Beethoven zum Pro-
grammusiker gemacht. Auch die Harmonie
ist nicht der Zweck der Musik. Das Ton-
werk ist zwecklos wie jedes Kunstwerk.
Die Tonverbindung um des Wohlgefallens
willen ist nicht Kunstwerk, sondern Orna-
ment, Dekoration.
Ich brauche von Tonwerken nichts zu sagen,
da die Tonwerke Bachs und Beethovens
allen Kunstverständigen, aller Kunstfremd-
heit zum Trotz Eigentum unseres Volkes ge-
worden sind. Das Volk, das nicht kunstver-
ständig ist, besitzt diese Kunstwerke unmit-
telbar kraft seiner intuitiven Erkenntnis.
Durch Intuition erkennt es jetzt auch die
Künstler Liszt, Bruckner, Mahler und gibt
Richard Wagner und Richard Strauß die
Stellung von Unterhaltungsmusikern, wo sie
dem Geschmack des ,,Publikums" Genüge
tun können. Die Sinfonien von Herwarth
Waiden sind die letzten Tonwerke der Ge-
genwart.
Die Dichter sind die Wortkünstler. Sie kün-
den ihr Gesicht mit Worttönen. Sie künden
ein Gesicht. Sie erzählen also nicht, sie be-
schreiben nicht, sie unterhalten nicht. Sie
sind keine Schriftsteller. Die Schriftsteller
sind die Feinde der Dichter. Die Dichter
lösen uns von der Zeit. Die Schriftsteller
schreiben die Zeit ab. Der historische Ro-
man, der soziale Roman, der Lebensroman,
der psychologische Roman erfordern einen
großen Aufwand von nichtkünstlerischen
Fähigkeiten. Aber keine noch so große An-
strengung, keine noch so ehrliche Naturbe-
obachtung, keine Charakteristik der Per-
sonen, keine noch so fleißige Beschäftigung
mit dem Stoff machen ein Kunstwerk. Das
Kunstwerk wächst ohne Anstrengung des
Geistes oder Körpers aus der Leidensfähig-
keit des Menschen. Der gebildete Schrift-
Lothar Schreycr F.rts.tmmE
Der Rhythmus kann sich spiralförmig öffnen
und schließen, kann aufsteigen und absteigen.
Es kann alle Zwischenstufen des Grundrhyth-
mus des Werkes und unzählige Verbindun-
gen geben. Die Oeffnung der Fläche, Fen-
ster und Tür, kann als schwarze Farbe, als
Pause im Rhythmus oder als bunte Farbe der
Fläche eingefügt sein. Die Bauwerke haben
durchsichtige und undurchsichtige Wände,
wo sie künstlerisch notwendig sind. Durch-
sichtig kann jede Wand werden, auch eine
Außenwand, die nicht Fenster oder Tür ist,
auch eine Zimmerwand. Die durchsichtige
Wand kann Farbform sein. Die Farbe ist
ein Licht. Das Innere und Aeußere des Hau-
ses leuchtet, natürlich oder künstlich. Die
Bewegung des Lichtes ist rhythmisch geglie-
dert. Das Tagb'ld des Bauwerkes ist ein
anderes wie das Nachtbild des Bauwerkes.
Die Bauwerke haben bewegte Flächen über-
all dort, wo es die künstlerische Notwendig-
keit verlangt. Es ist möglich, daß sich auch
andere Flächen als Türen und Fenster im
Inneren und Aeußeren der Häuser bewegen.
Es gibt wandelnde Zimmer. Es gibt schwe-
bende Bauwerke. Das Gesicht des Bau-
künstlers ist nicht nur eine Sehvorstellung
und Bewegungsvorstellung, sondern auch
eine Hörvorstellung. Es g bt tönende Bau-
werke. Schwebende Häuser klingen, wan-
delnde Zimmer tönen und die reglosen Zim-
mer beginnen um uns zu rauschen, uns tief
zu versenken. Das Bauwerk ist keine Raum-
gestaltung, sondern eine Verne'nung des
Raumes, daß unser Selbst einzugehen ver-
mag ins Raumlose.
* *
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Den Musiker hat die nichtkünstlerische Zeit
am wenigsten töten können. Auch die Mehr-
zahl derer, die heute unsere Kunstwerke ab-
lehnen, snd sich bewußt, daß das Schaffen
des Musikers und sein Werk von keinem
Verstand und von keinem Gefühl ermessen
werden kann. Und es wird kaum einen Men-
schen geben, der nicht einmal beim Klingen
der Musik alles um sich vergaß, sich
selbst und seine Leiden vergaß, einging in
ein Nichtwissen. Wer das erlebte, wird die
Augenblicke des Versunkenseins immer zu-
rücksehnen. Er mag ahnen, daß uns jedes
künstlerische Erlebnis dorthin führt. Er mag
fühlen, daß aus solchem Erlebnis jede Kunst-
gestalt, nicht nur das Tonwerk, quillt. Er
soll erkennen, daß solches Erleben im Leben
die Erlösung vom Leben bringt.
Der Tonkünstler gestaltet sein Gesicht m't
den reinen Tönen und deren Verbindungen.
Jedes Tonwerk hat sein eigenes rhythmi-
sches Gesetz. Die Tonwerke stellen nichts
dar. Die Programmusik ist eine Erfindung
der Kunstverständigen. Die Kunstverstän-
digen haben sogar Beethoven zum Pro-
grammusiker gemacht. Auch die Harmonie
ist nicht der Zweck der Musik. Das Ton-
werk ist zwecklos wie jedes Kunstwerk.
Die Tonverbindung um des Wohlgefallens
willen ist nicht Kunstwerk, sondern Orna-
ment, Dekoration.
Ich brauche von Tonwerken nichts zu sagen,
da die Tonwerke Bachs und Beethovens
allen Kunstverständigen, aller Kunstfremd-
heit zum Trotz Eigentum unseres Volkes ge-
worden sind. Das Volk, das nicht kunstver-
ständig ist, besitzt diese Kunstwerke unmit-
telbar kraft seiner intuitiven Erkenntnis.
Durch Intuition erkennt es jetzt auch die
Künstler Liszt, Bruckner, Mahler und gibt
Richard Wagner und Richard Strauß die
Stellung von Unterhaltungsmusikern, wo sie
dem Geschmack des ,,Publikums" Genüge
tun können. Die Sinfonien von Herwarth
Waiden sind die letzten Tonwerke der Ge-
genwart.
Die Dichter sind die Wortkünstler. Sie kün-
den ihr Gesicht mit Worttönen. Sie künden
ein Gesicht. Sie erzählen also nicht, sie be-
schreiben nicht, sie unterhalten nicht. Sie
sind keine Schriftsteller. Die Schriftsteller
sind die Feinde der Dichter. Die Dichter
lösen uns von der Zeit. Die Schriftsteller
schreiben die Zeit ab. Der historische Ro-
man, der soziale Roman, der Lebensroman,
der psychologische Roman erfordern einen
großen Aufwand von nichtkünstlerischen
Fähigkeiten. Aber keine noch so große An-
strengung, keine noch so ehrliche Naturbe-
obachtung, keine Charakteristik der Per-
sonen, keine noch so fleißige Beschäftigung
mit dem Stoff machen ein Kunstwerk. Das
Kunstwerk wächst ohne Anstrengung des
Geistes oder Körpers aus der Leidensfähig-
keit des Menschen. Der gebildete Schrift-