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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

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Neuntes Heft
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Walden, Herwarth: Vorsicht! Zeugen!
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https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0136

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Vorsicht! Zeugen!
Die Schwäbische Tagwacht ist sehr radikal.
Sie hat ihre Kunstkritik auf den Tag einge-
stellt und verwirft daher grundsätzlich Bil-
der älteren Datums, wenigstens soweit sie
vom Sturm ausgestellt sind. Der Sturm
schuldet der Schwäbischen Tagwacht die
Entwicklung. Während sich ihr Kunstkriti-
ker von Tag zu Tag entwickelt. Er schreibt
sonst schlichte Novellen und Romane und
wird in der Produktion nur durch seine
Kunstbetrachtungen gehemmt. „Die Bilder
der Sturm-Gruppe sind meist älteren Da-
tums. Heute, wo sie durch keinerlei gestei-
gerte Kunstleistungen als Vorläufer gewertet
werden können, sehen wir in ihnen bereits
die Erfüllung eines Programms . . . ." Diese
beiden Sätze allein zeigen die ganze Be-
schränktheit bürgerlicher Kunstanschauung.
Der Bürger nimmt in der Kunst ein Partei-
programm an, besieht sich die Entwicklung,
sucht nach dem Vorläufer und wenn er lange
genug nachgelaufen ist. findet er die Er-
füllung. Dieses Nachlaufen nennt man libe-
ral. Man ist grundsätzlich bereit nachzulau-
fen. Der Vorläufer wird zeitlich festgestellt.
Er ist immer, nicht nur meist, älterenDatums,
Der tägliche Mensch gewöhnt sich an einen
Vorläufer und betrachtet ein Jahrhundert
lang entzückt die Stelle, wo einst ein Vor-
läufer (auf deutsch genius loci) gestanden
hat. Der Läufer ist aber an jeder Stelle ein
anderer. Und deshalb sieht auch die Schwä-
bische Alltagwacht nicht die gesteigerten
Kunstleistungen. Denn die Kunstleistungen
können sich nicht steigern, sie können nur
anders sein. Woran erkennt der Kunstkri-
tiker den Vorläufer. An dem Namen. Der
namenlose Kritiker merkt sich die Namen
und vermißt die Namen. Aber liberal, wie
er im Nachlaufen ist, merkt er sich auf jeden
Fall die neuen Namen und wird sie nach
einem Jahrzehnt wieder als Vorläufer ver-
missen. Wieder werden die gesteigerten
Kunstleistungen fehlen, und die Bilder meist
älteren Datums Erfüllung des Programms
sein. Der Schwäbische Tagwächter hat
„jene epochemachende Berliner Ausstellung
des Sturm 1913 in Berlin" gesehen. Oder er
kennt wenigstens den Katalog. Er lobt die
Namen von 1913, vermißt einige Namen von
1913 und beruft sich auf Herrn Paul West-

heim: „Paul Westheim, der wohl unverdäch-
tige Vorkämpfer des Expressionismus, klagt
neulich über die jungen Leutchen, denen die
jetzt so massenhaft verbreitete expressioni-
stische Schundliteratur scheinbar die Köpfe
verwirrt hat und die nun falsch verstandene
Kandinsky nachkubisteln." Die Unverdäch-
tigkeit des Herrn Paul Westheim muß ich
nicht nur bezweifeln, ich kann seine Ver-
dächtigkeit sogar dem Tagwächter aus
Schwaben nachweisen. Denn Herr Paul
Westheim hat „jene epochemachende Sturm-
Ausstellung 1913" als „Bluff und Schwindel"
bezeichnet und zwar in zahllosen gedruckten
Aeußerungen, jene Ausstellung, auf die sich
der Tagwächter gegen die jetzige Sturm-
Ausstellung beruft. Der Herr möge sich das
selbst nachlesen. Herr Paul Westheim be-
streitet sogar noch im Jahr 1918 Kandinsky
die Künstlerschaft. Um so erfreulicher ist es,
daß er 1919 über die jungen Leutchen klagt,
die nun falsch verstandene Kandinsky nach-
kubisteln. Trotzdem Herr Westheim gerade
diese jungen Leutchen propagiert und die ex-
pressionistische Schundliteratur selbst
schreibt, die er den Zeitgenossen vorwirft.
Herr Westheim rechnet etwas zu kühn mit
dem schlechten Gedächtnis der Zeitge-
nossen, wenn er laut Tagwacht schreibt:
„Wieviel Grips gehört zu dem falsch verstan-
denen Expressionismus, der jetzt ja die große
Mode ist?" — Offenbar sehr wenig. Denn
Herr Westheim hat sich auf Grund der gro-
ßen Mode immerhin zum Etappenkämpfer
des falsch verstandenen Expressionismus ge-
macht. Der Tagwächter ist aber nicht nur
über die Dinge älteren Datums wenig unter-
richtet, er liest nicht einmal die falsch ver-
standenen Kunstäußerungen seines wohl un-
verdächtigen Zeugen genau nach. Denn sonst
würde der Tagwächter wissen, daß der un-
verdächtige Zeuge heute Marc Chagall als
größten Meister preist, den er allerdings
1913 noch für einen „Hottentotten im Ober-
hemd" erklärt hat. Der Tagwächter findet
hingegen, daß Marc Chagall „robuste Far-
bigkeit russischer Heiligenbildchen mühsam
nachahmt." Auch eine philosophische Aeu-
ßerung des unverdächtigen Westheim wird
den Stuttgarter Lesern vorgesetzt: „Revolu-
tionär spielen ist sehr leicht." Das hätte
gerade Herr Westheim nicht äußern sollen,
denn sein Revolutionär spielen ist ihm böse
 
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