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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

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Fünftes Heft
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Schreyer, Lothar: Die neue Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0072
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Die neue Kunst
Lothat Schreyer
Ich will nicht erklären, was Sl&tie Kunst und
was alte Kunst ist. EN gibt keine neue und
Leine alte Kunst. Es gibt Kunst.
Ich Tann nicht sagen, was Kunst ist. Kein
Mensch kann es. Wer es zu säjg&h versucht,
frevelt an der Kunst und belügt die Men-
schen. Er spricht von Nichtkunst.
Nur von Künstlern, nur von Kunstwerken
kann gesprochen werden. Künstler sind
Menschen, die Kunstwerke schaffen, Von
den Gedanken und Gefühlen solcher Men-
schen kann gesprochen werden, soweit sie
uns ihre Gedanken und Gefühle mitteilen,
Ueber Kunst erfahren wir hierdurch nichts.
Wir können oberflächlich erfahren, was für
ein Mensch der Künstler ist, der bestimmte
Werke geschaffen hat. Der Künstler selbst
und wir durch ihn können oberflächlich er-
fahren, unter welchen Voraussetzungen, Be-
dingungen und Begleitumständen er seine
Werke schafft. Das Geheimnis der Kunst
enträtselt uns auch der Künstler nicht. Vom
Künstler und seinen Werken können wir die
Kunstmittel erfahren, mit denen er das Werk
gestaltet hat. Der Künstler kann uns die
Handhabung der Kunstmittel mitteilen, so-
gar lehren. Der Künstler und wir können
aus den Werken bestimmte Grundsätze er-
fahren, die uns als werkgestaltende Grund-
sätze erscheinen. Aber weder aus den werk-
gestaltenden Grundsätzen, noch aus einer
Handhabung der Kunstmittel, noch aus einer
Kenntnis der Kunstmittel erfahren wir, was
Kunst ist.
Durch dieses Bekenntnis zum Nichtwissen
der Kunst scheiden wir uns von den Men-
schen der nichtkünstlerischen Zeit. Solche
Menschen leben noch allzuviel in unserer
Zeit. Sie behaupten durch die Kenntnis der
Kunstmittel, durch die Kenntnis der Kunst-
geschichte oder das geistige Begreifen der
Kunstwerke zu wissen, was Kunst ist. Das
sind die armen Menschen, die zu wissen be-
haupten, was Liebe ist, was Leben ist, was
Gott ist.
DieWeltwende scheidet Mensch von Mensch.
Sie scheidet die Menschen, die behaupten, zu
wissen, was Liebe ist, von den Menschen,
die Liebe haben. Sie scheidet die Menschen,
die behaupten zu wissen, was Kunst ist, von
den Menschen, die Kunst haben,
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Die Weltwende wandelt die Menschheit,
Wir alle leiden das Leiden der Welt. Die
Menschen der uns abgewandten Welt täu-
schen sich über das Leiden hinweg und be-
haupten, die Erlösung von Leiden zu wissen.
Wir aber leiden das Leiden der Welt wahr-
haft und lösen uns vom Leiden. Das ist un-
sere Notwendigkeit.
Wir lösen uns vom Leiden. Wir leiden nicht
mehr, Wir können Unser Bewußtsein auf-
heben. Wir heben unSer Bewußtsein auf im
e'genen Selbst und im anderen Selbst. Das
ist der Weg zur Neugeburt des Menschen.
Der Künstler geht den Weg der Neugeburt
des Menschen. Er geht auf im Leidenlosen.
Er ist das Nichts.
Der Künstler hebt sein Bewußtsein auf, in-
dem er sich in sein Selbst oder in ein ande-
res Selbst versenkt zum Selbstvergessen.
Der Künstler ist begnadet. Eine Gnade er-
faßt ihn und läßt ihn versinken. Das Sich-
versenken ist keine Handlung des Willens.
Es ist keine Handlung. Es ist ein Erleiden.
Vor der Gnade g bt es keine Würdigen und
Unwürdigen. Aus erwählt sind Würdige und
Unwürdige. Auserwählt ist der leidende
Mensch. Begnadet leidet er nicht.
Verläßt den Menschen die Gnade, so leidet
er mehr als andere Menschen. Er erleidet
Vorstellungen: Das Gesicht. Ihm erscheinen
Bilder, Leute, Worte, Geräusche, Lichter,
Dunkelheiten, Gerüche. Die Erscheinungen
werden und vergehen, wandeln sich, sind
Bewegung. Während der Erscheinungen sind
die Sinne gegen die Außenwelt verschlos-
sen. Wir wissen nicht, ob die Erscheinun-
gen unmittelbare Vorgänge in unserem In-
nern sind oder ob sie Wirkungen eines un-
bekannten Geschehens sind. Wir wissen
nur, daß wir sie erleiden müssen, wenn wir
aus der Leidlosigkeit zum Bewußtsein zu-
lückkehren. Die Wahrnehmung des Ge-
sichts liegt innerhalb des Bewußtseins. Wir
nehmen Gesichte wahr in derUnendlichkeit
ihrer sinnlichen Eindrucksmöglichkeit. Un-
zählige Farbformen, Töne, Bewegungen und
deren Verbindungen sind möglich. Im Ge-
sicht ist die Erscheinungsform der äußeren
Wirklichkeit nur ein Einzelfall. Die Erschei-
nungen des Gesichts sind ebenso Wirklich-
keiten wie die Wirklichkeiten der Außen-
welt,
 
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