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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Sechstes Heft
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Walden, Herwarth: Briefwechsel mit Signe dem Kind
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0087
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Zigaretten. Nur die Fingernägel werden
mit den Jahren sauberer. Schmutz ist das
Sinnbild der Arbeit. Lackschuhe sind das
Sinnbild des Müssiggangs. Ist es müssig,
zu springen, über die Erde zu hüpfen.
Man muss dazu Zeit haben. Schularbeiten
sind immer schnell fertig. Ich schicke Dir
hier ein blaues Band für Dein blondes
Haar. Vielleicht kannst Du es nicht ge-
brauchen. Nur was man nicht braucht, ist
ein Geschenk. Vorläufig werde ich nicht
zu Euch kommen können. Ich muss mich
sammeln. Trotzdem es mich freuen würde,
Deine Eltern wieder zu sehen.
Ihnen und Dir die herzlichsten Grüsse
Der alte Freund Eures Hauses
Ihr Brief hat mich froh und traurig gemacht.
Ich habe geglaubt, dass Sie mich mögen.
Nun wollen Sie gar nicht kommen und nur,
um meinen Eltern Freude zu machen. Ich
muss Ihnen etwas gestehen. Mit den Eltern,
das habe ich nur so hingeschrieben. Ich
dachte, Sie würden es schon richtig ver-
stehen. Die Eltern haben immerzu Besuch.
Um mich kümmert sich niemand. Mutter
will mir keine langen Kleider machen
lassen. Ich gehöre noch nicht in die Ge-
sellschaft von Erwachsenen, sagt sie immer.
Aber spielen soll ich auch nicht, dazu bin
ich zu alt. Ist das nicht ungerecht. Lesen
macht mir keine Freude. Die Leute in den
Büchern drücken sich so schrecklich dumm
aus. Alles ist unwahr. Das blaue Band
hat mir grosse Freude gemacht. Zu Weih-
nachten hat mir Mutter ein blaues Kleid
versprochen. Eigentlich wusste ich nichts
welche Farbe ich nehmen sollte. Da kam
das blaue Band. Und da wusste ich es.
Ich möchte Sie gern manches fragen. Aber
Fragen ist sehr schwer. Manchmal glaube
ich, Sie werden mir antworten, ohne dass
ich fragen brauche. Bald fahren wir in
die Stadt. Eine ganze Woche. Die Stadt
ist viel schöner. Es brennen sehr viele
Lichter. Alle Menschen eilen und die Damen
und Mädchen sehen sehr vornehm aus.
Diesmal darf ich auch ins Theater gehen.
Vielleicht sehe ich sogar den Faust. Ich habe
Butterblumen sehr gern. Warum man sie
nur Unkraut nennt. Ich lege Ihnen eine
bei.
Gruss Signe

Mein liebes Kind
Kraut kann man wenigstens essen. Dafür
wächst das Unkraut desto besser. Desto
schöner. Unkraut hat Lebenskraft. Es
braucht nicht gepflegt zu werden. Unkraut
ist stolz. Es wächst zu seinem eignen Ver-
gnügen. Auch das Vergnügen muss wachsen.
Unkraut ist billig, weil es zu seinem eigenen
Vergnügen wächst. Deshalb treten die
Menschen auch darauf herum. Ich behan-
dele Deine Butterblume als Orchidee. Ich
habe sie in eine kleine japanische Vase
gestellt. In eine blaue Vase. Mein Besuch
ist von der Blume sehr entzückt. Einem
ist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Butter-
blume aufgefallen, die allerdings nach seiner
Ansicht nicht so farbenrein ist. Ich habe
die Vase auf meinen Schreibtisch gestellt,
der ziemlich überfüllt ist und den ich bei
dieser Gelegenheit aufräumte. Deiner Blume
musste das Bild Goethes weichen. Goethe
nimmt überhaupt sehr viel Platz in Anspruch.
Wo den Menschen nichts einfällt, stellen
sie Goethe hin. Du wirst jetzt den Faust
in der Stadt sehen. Du ziehst gewiss das
neue blaue Kleid an und das blaue Band
bindet Dein Haar, das wild zu seinem
eigenen Vergnügen wächst. Du wirst auch
Gretchen kennen lernen. Und Du sollst
mir schreiben, ob die Leute sich schreck-
lich dumm ausdfücken. Und ob alles un-
wahr ist. Warum schämst Du Dich zu
schreiben, dass mein Besuch Dir Freude
machen würde. Das Kind darf ohne Scham
sein, muss ohne Scham sein, weil es nichts
zu verbergen hat. Alle Menschen freuen
sich gern. Warum willst Du Dich nicht
freuen dürfen. Auch Kinder sind Menschen.
Aber ich kann nicht kommen. Ich muss
arbeiten. Auf meinem Tisch blüht Deine
Blume. In Deinem Haar leuchtet mein
Band. Mein blaues Band.
Grüsse Deine Eltern Dein alter Freund
Ich konnte Ihnen so lange nicht schreiben,
weil mich die Stadt ganz müde macht. Ich
bin auch nie allein. Mutter will, dass wir
die Zeit ausnutzen. Jeden Vormittag sehen
wir uns Bilder an, jeden Nachmittag die
Umgegend und jeden Abend gehen wir ins
Theater oder ins Konzert. Ich hasse die
Kunst. Sie ist nur dazu da, um die Zeit
auszunutzen. Auf den Faust hatte ich mich
sehr gefreut, aber er ist sehr sehr lang-

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