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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Siebentes Heft
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Blümner, Rudolf: Zur Geschichte des Sturm und des deutschen Journalismus, [10]: Briefe gegen Paul Westheim
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0167
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versitäten über den „Kumpan“ Marc Chagall
geschrieben zu haben? Und in welcher
Eigenschaft haben Sie das geschrieben?
Als Bierzapfer? Als Mitarbeiter des Or-
gans für Friseurgehilfen? — So tun Sie
doch endlich den Mund auf! Ich halte
Sie für fähig, dass Sie mich für den
Verfasser ausgeben wollen. Oder dass
ich meine fortune corrigiert habe, da
ich doch an der Ihrigen nichts verbessern
kann. Also heraus mit der Sprache!
Sie wissen es nicht mehr? Ja, das
mag sein, dass Sie nicht mehr wissen,
was Sie geschrieben haben. Darum
will ich es darauf ankommen lassen, ob
man mir zutraut, dass ich Kritiken des
Herrn Westheim nachschreiben kann, ohne
eine Silbe daran zu ändern. Es war eine
Herausforderung. Aber nachdem Walden
Ihre Beschimpfung des Kumpans Chagall
in Erinnerung gebracht hatte, da, Herr
Westheim, begingen Sie keinen Selbstmord.
Denn Sie wussten, dass Sie mit diesem
Urteil den Kritiker Westheim längst ge-
mordet hatten. Auch Herr Kiepenheuer
tat nicht das, was ihm zur Ehre gereicht
hätte. Er packte Sie nicht beim Kragen
und befreite sich von Ihnen, sondern liess
Sie weiter den Westheim spielen. Und
selbst Walden sah sich abermals ein Jahr
diesen Unfug an, dass der Erzbeschimpfer
der Kunst sich für ihren Förderer ausgab
und ausgeben liess, — da ja doch diese
Kunst inzwischen anerkannt worden war.
Dass aber im Herbst 1919 Einer sich die
Tollheit aller Tollheiten leistete, Sie, Paul
Westheim, den „gewiss unverdächtigen Vor-
kämpfer des Expressionismus“ zu nennen,—
das, nicht wahr, Herr Westheim, Sie ver-
stehen mich? Suchen Sie sich selbst ein
Wort dafür. Sie, Paul Westheim, den
„gewiss unverdächtigen Vorkämpfer des
„Expressionismus“ zu nennen! Grosser
Gott im Himmel, ich hätte es mich beinahe
eine Reise kosten lassen, den von Angesicht
zu Angesicht zu sehen, der Paul Westheim
den „gewiss unverdächtigen Vor-
kämpfer des Expressionismus“ genannt hat.
Wird er aussehen wie ein Mensch? An der
Stelle des Kopfes wird er die Füsse tragen.
Er ging auf dem Kopf. „Paul Westheim,
der gewiss unverdächtige Vorkämpfer des
Expressionismus“ schrieb die Mole, indem
sie die Feder zwischen die Zehen des

linken Fusses klemmte. Und als Sie das
lasen, Herr Westheim, da stiessen Sie eine
Lache aus, so grässlich, als hätten Sie
noch immer über eine Plastik von
Archipenko, über ein Bild von Campen-
donk oder drei Bilder von Chagall
ein paar Dutzend Zeilen herunterzulachen.
Wie schauerlich Sie lachen können, wenn
Sie einer, der auf dem Kopf läuft, für den
gewiss unverdächtigen Vorkämpfer des Ex-
pressionismus hält! Das also kann einem
geschehen, der mit der grossen Zehe kriti-
siert, dass er den einzigen, gewiss
verdächtigen Vorkämpfer des
Expressionismus für „gewiss un-
verdächtig hält. Nun, Herr Westheim, Sie
haben gelacht, Sie haben sich beinah tot
gelacht. Und wer so gelacht hat, dass er dem
Tod ins Auge sah, — ja, erinnern Sie sich
denn nicht an Ihr entsetzendes Gelächter?
Aber das müssen Sie doch wissen! Ich höre
Sie heute noch lachen, — sehen Sie selbst,
wie Sie mich mit Ihrem grausigen Lachen
aus der Fassung bringen, denn ich wollte
sagen: als man Sie, ja Sie, Herr Westheim,
als man Sie den gewiss unverdächtigen
Vorkämpfer des Expressionismus genannt
hatte, da schlug Sie Walden zum zweiten
Mal aufs Haupt. Und nun lasst uns sehen,
o Genossen einer Zeit, in der ein Westheim
ein gewiss unverdächtiger Vorkämpfer von
Gott weiss was genannt werden kann, nun
lasst uns sehen, was Herr Westheim tat.
Ging er hin und gestand? Oder bereute er?
Oder leugnete er? Er schrieb im April 1920
dieses und jenes gegen den Sturm. Er ver-
suchte — ah, ganz recht, das waren ja Sie
selbst, Herr Westheim, also Sie versuchten,
einige Worte zu Ihrer Rechtfertigung anein-
anderzureihen. Aber da Sie Ihre fürchter-
liche Vergangenheit nicht aus der Welt heraus-
jonglieren konnten, so wurde daraus ein
Gestrüpp von Sätzen, an dem Sie sich selbst
auf hängen mussten. Jawohl, Herr West-
heim, das waren Ihre berühmten Sätze von
derEntwicklungKandinskys aus der Banalität
heraus. Künstler müssen sich erst entwickeln,
ehe ein Westheim sagen kann: Bravo, das
nenn ich mir einen Expressionismus, der sich
gewaschen hat! Und es war wohl das
wenigste, das man von einem, der sich
herausreden muss, verlangen kann, wenn
Sie sich nicht grade auf Chagall beriefen.
Oder sagen Sie mir, Herr Westheim, warum
 
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