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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Elftes Heft
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Heynicke, Kurt: Tai-a-oh
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0194
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Er kriecht auf das noch kühle Gestein; es
schwillt die Sonne und hebt sich weit über
den Horizont, steigend und stetig. Aber
jetzt, als Tai sich das Wasser vom Leib
schüttelt und die Glieder an den Steinen
hinaufreckt, geht jäh ein Ruck durch ihn.
Das hat er nie gesehen. Er ist starr. Seine
Augen drehen sich weiss in den braunen
bebuschten Höhlen, er stiert mit vorgewor-
fener Unterlippe, mit schwingendem Ober-
körper auf die Stelle, wo das Meer eine
ebene Wandung in den Stein gebissen hat.
Diese Fläche ist nicht leer.
Ja, er hat solches nie gesehen. Er kriecht
auf Hand und Fuss näher. Tais Gesicht
verlässt das Bild nicht. Er will denken
und kann nicht. Sein Hirn beginnt sich zu
drehen, nun hockt er und ist Erwartung.
Nichts bewegt sich. Nichts. Das Weib ist
tot. Der angespülte Rest des verbrannten
Schiffes, vor dessen Flackerschein Tai sich
verkrochen hatte in die Nacht seiner Höhle,
liegt vor ihm. Dieses Weib ist übrig vom
Schiffbruch.
Stück für Stück springt Tai näher. Lallen
entfliegt ihm. Plötzlich wirft er die Hände
hoch und legt sie auf die Frau. Nichts
geschieht. Das Meer rauscht. Die Sonne
steigt brennender. Tai aber fürchtet sich.
So sitzt er. Stunden. Im Meerwind, ein
braunes Tier. Die Lippen stossen seinen
Atem pfeifend aus, aber keinen Laut. Der
Tropfen Seele in ihm zermartert sich, er
will sich bewegen und kann nicht.
Immer glühender wird die Sonne. See-
vögel flattern dreister, Tai rührt sich nicht.
Die Tote ist nicht entstellt. Sie wird ge-
schwommen haben bis hierher, dann hat
ein Herzschlag ihr kämpfendes Leben im
Stich gelassen und es ist zu Ende gewesen.
Das dünne Gewand ist noch nass an den
Leib gepresst. Tai-a-oh sieht "alles. Die
Brüste, welche jungfräulich prall empor-
stehen, das weiche Becken breit und for-
dernd, schlanke Säulen makelloser Füsse
und das geschlossene Antlitz unknochig
und fein, darum gelegt schwarzes feuchtes
Haar wie ein tröstender Kranz. Tai weiss
nicht, was er sieht.
Von ferne kräuselt bereits Flut das Meer.
Klippe zu Klippe wird überspült, näher
rollen die steigenden Gewässer.
1 ai richtet sich hoch. Er beugt den Kopf
wie ein Stier den Nacken zum Kampf. Es

gurgelt aus seiner gewaltigen Brust. Und
jetzt greift er die Tote und wirft sich mit
ihr ins Meer, inselwärts. Schon wandert
kurze Dämmerung heim in die Nacht.
Der Weg zur Höhle ist schwer, Tai klebt
am Gestein mit der Last, aber er zwingt
ihn. Drückt sich einwärts, immer stumpf
lautlos und mit dem Rätsel auf den Hän-
den. Jetzt lässt er die Frau sich entgleiten,
aber dann tastet er über den nassen Leib.
Immer etwas will ihn erdrücken. Er
schüttelt es ab wie ein lästiges Getier.
Schlafen geht Tai-a-oh und legt sich neben
seine Beute, dicht — und wärmt mit.sei-
nem Körperblut eine Tote.
Licht des neuen Morgens sticht herein.
Einwehende heisse Luft hebt die Starre
des Todes nicht auf, die Fäulnis beginnt.
Tai ist aufgewacht und er sieht es, er sieht:
das ist der Tod. Denn er hat ihn ebenso
walten gesehen im Reiche der Vögel, Fische
und Landtiere.
Tai bleibt. Er wartet. Schleppt die Leiche
wieder heraus in die lichte Luft des Tags.
Entwirrt grob den Leib von den Kleidern.
Sieht und sieht einen nackten Leib.
Die Sonne stösst Tai in den Nacken, Luft
durchwühlt seine Haut. Insekten nähern
sich der Toten. Tai bemerkt alles. Und
jetzt wirft sein Ruf die Einsamkeit um, Tai
klagt um sich, klagt um die Tote, klagt:
Tai, Tai, Tai-a-oh ....
Jetzt, jetzt rollt der Tropfen Seele und er
rollt in ein Labyrinth. Er ist verloren, er
kehrt nie mehr wieder. Alles erloschen,
kein Weg mehr im Hirn.
Tai gibt der Nacht zurück ihr Geschenk,
die Nacht hat ihn genarrt. Mit der Insel
im Rücken schreitet er ins Meer. Ein wenig
Seele mehr in diesem Wesen, die See wäre
ihm eine Gottheit geworden, anzubeten.
Nein, nichts: Tai ist ein lier. Aber doch:
er gibt zurück, er lässt nicht liegen. Der
Tropfen Seele rollt.
Tai schreitet, er schwimmt nicht. Er hält
die Tote fest, starr. Wogen kommen gierig,
er will nicht schwimmen. Tai kämpft nicht
mehr. Der Tropfen Seele rollt heimwärts.
Jetzt ist er frei. Das Gefäss ist zerbrochen.
* *
*
Tai!!! schreit sich die brandende Woge
die Felsen hinauf. Der schweigende Stein
lässt die Wasser bersten, und sie entfallen,
klagend verlöschend: a-oh.

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