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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Walden, Herwarth: Für die Kunst gegen die Künstler
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0008
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und macht sie den Göttern gleich. Ferner
beschäftigen sich zahllose Herren und
Damen damit, zu registrieren, wie weit
durch die einzelne Künstlerpersönlichkeit
die Menschheit den Göttern gleichgemacht
ist. Soweit diese Herren und Damen es
täglich tun, nennt man sie Kunstkritiker,
soweit sie es jährlich tun, Kunstwissen-
schaftler, soweit sie alle Götter miteinander
vergleichen und daraus das Fazit ziehen,
Aesthetiker. Diese Berufsarten sind der
Menschheit besonders sympathisch, die
sich der erdichteten oder ermalten Götter-
gleichheit noch nicht persönlich bewusst
geworden sind. Sie können einfach nach-
lesen, wo sie stehen oder wie es um sie
steht und kön pen sich die Arbeit des Sehens
und Hörens ersparen. Und Regierungen
reden sich immer auf die Kunst heraus,
wenn sie sich in ihrer Tätigkeit auf keine
andere Weise mehr herausreden können.
Die Kunst bekommt dann den Ehrennamen
Kultur, wird prozentual in den Staats-
haushalt eingesetzt, es werden ihr sogar
von amtswegen besondere Gebäude er-
richtet, in denen Obdachlose sich erkälten,
Liebende sich erfreuen und Kunstkenner
feststellen können, ob die Dinge wirklich
alle gemalt worden sind, von denen sie
bereits soviel gelesen haben. Hinzu kommt
noch die allgemeine Entdeckerfreude. Ein
Bild wird plötzlich über das andere ge-
stellt, indem man es unter das andere
hängt, eine Plastik wird in die Mitte des
Saales gerückt, damit man sie mit zwei
Augen von allen Seiten besehen kann, von
der allseitigen Betastungsmöglichkeit ganz
zu schweigen, ein Komponist wird auf ein
ganz grosses Orchester gebracht und um-
gebracht, weil die Instrumentenindustrie
seinerzeit dem Göttlichen nicht effektiv
nachkommen konnte, ein Dichter wird so
gründlich beschrieben und besprochen,
dass nur noch sein Geist unsichtbar bleibt,
der auch vorher nicht sichtbar gewesen
ist. Und wenn statistisch auf jezehntausend
Kopf der Bevölkerung ein Berufskünstler
festgestellt wird, so ist das Volk der Denker
und Dichter fertig. Statistisch fertig.
Indessen sammelt sich in den Kultui Stätten
der Länder, in den Schulen, die durchaus
nicht lernbegierige Jugend, um zweimal
wöchentlich diesen groben Unfug in das
Gehirn hineingebläut zu bekommen. In den
Zeiten der 'Kulturschande mit Stock, in
den Zeiten des Fortschrittes ohne Stock.
In jeder Schule werden drei staatlich ge-
prüfte Herren und neuerdings auch Damen
Zeichenlehrer, Musiklehrer und Literatur-

lehrer genannt, die persönlich mit oder
ohne Stock alles das gelernt haben, was
sie nun in berechtigter Wut den anderen
beibringen. Der Zeichenlehrer und der
Musiklehrer werden ausserdem von den
übrigen Kollegen als minderwertig einge-
schätzt, weil sie sich mit den freien Künsten
statt mit der unfreien Wissenschaft, wenn
auch nur zwangsläufig, befassen müssen.
Der Literaturlehrer hat ein gewisses höheres
Ansehen, weil er die Muttersprache an-
geblich beherrscht. Auch das Herrschen
soll eine Kunst sein. Die Kunst des
Herrschens beruht in der Regelung. Das
Regeln geschieht auf eine höchst einfache
Weise. Es wird alles 'e stgestellt. Was
sich bewegt, wird geköpft. Oder soweit
die Bewegung zugelassen wird, wird die
Richtung vorgeschrieben, durch die man
den Herrschaften nicht in den Weg laufen
kann. In der Sprache nennt man dies
System Grammatik. Am klarsten wird
dieses System durch die Regelung des
Verkehrs. Man hält den Verkehr einfach
auf der einen Seite auf, wodurch er sich
auf der anderen Seite bequem entwickeln
kann. Oder die Regelung des Geldverkehrs.
Man hebt den Leuten auf der einen Seite
alles Geld einzeln auf, wodurch es auf der
anderen Seite bequem auf einmal aus-
gegeben werden kann. Die Leute bekommen
für die Aufbewahrung Quittungen, die sie
wieder auf heben dürfen, weil sie zum
Ausgeben wertlos sind. Dieses System
nennt man Finanzwirtschaft. Oder die
Regelung der Kunst. Man bezeichnet jeden
Körperteil durch einen Strich. Wenn die
Striche mit den Bezeichnungen Kopf, Hals,
Brust, Bauch, Beine in der richtigen Reihen-
folge verwandt werden, ist es Kunst. Ist
die Reihenfolge beinahe richtig, Dilettan-
tismus. Striche in falscher Reihenfolge
sind Kitsch. Man nennt es dann merk-
würdigerweise nicht Unkunst, sondern
Unnatur. Das gleiche gilt von den Be-
zeichnungen botanischer oder zoologischer
Bestandteile. Es gibt Leute, sogar kluge
Leute, die genau wissen, dass der Mensch
zwei Augen hat. Und die es der Kunst
persönlich übelnehmen, wenn sie etwa
ein Auge zudrückt. Der göttergleiche
Mensch muss in seinem malerischen Ab-
bild mindestens ein Kniestück ergeben.
Die Beine allein sind höchstens für Schuh-
reklame znlässig. Künstlerische Bäume
werden an den Rippen ihrer Blätter und
Häuser an der Lotrechten erkannt. So ist
alles ausserordentlich feingeistig geregelt
und mit den Farben wird noch eine Art

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