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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Walden, Herwarth: Über allen Gipfeln: Die metergroßen Dichter der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0079
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DER STURM / ZWEITES VIERTELJAHRHEFT

Probleme. Man kann aber Probleme nicht dadurch lösen, daß man sie sich
oder anderen ausredet. Und die Darstellung dieser gewollten oder unge-
wollten Ausreden hält man noch heute für Kunst. Die Erfindung solcher
Ausreden hält man noch heute für Phantasie. Da man das Wesen der Sinne
nicht erkennen will oder nicht mehr erkennen kann, verdeckt man sie mit
Übersinnlichkeit. Die Wirklichkeit hingegen wird vergeistigt. Wirtschaft wird
Politik, Verwaltung Nationalität, Verwandtschaft Glaube. Womit die höheren
Bedingungen des Menschentums zu jeder Art von Vernichtung der Menschen
gegeben sind. Diese Geister können nicht spielen, aber die Literatur verschafft
ihnen die Beispiele. Und da die Geister schief gewickelt sind, müssen sie
sich immer mehr verwickeln und stürzen schließlich von der Höhe platt auf
den Boden. Die Literatur nennt es dann Tragödie.
Das, was man Expressionismus nennt, hat mit diesen Dingen und mit diesen
Dichtern nichts zu tun. Expressionismus ist Kunst. Weiter nichts, Kunst
aber ist die sinnliche Gestaltung optischer oder akustischer Phänomene. Sie
hat keinen Geist, kann daher auch nicht verstanden werden. Sie wird nur und
ausschließlich durch die Sinne aufgenommen. Sie ist vieldeutig wie jeder
sinnliche Eindruck. Sie wirkt unmittelbar auf die Sinne und überläßt es dem
einzelnen, sich daraus einen Vers zu machen, der nicht mehr sinnlich auf-
nehmen kann. Nur aus den Sinnen kann der Sinn sich bilden. Nicht aus
dem Sinn, nur aus den Sinnen kann Kunst gestaltet werden.
Herwarth Walden

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