DER STURM / ZWEITES VIERTELJAHRHEFT
dichtet in seiner Antigone den Sophokles nicht nach, sondern um und unter
seinen Händen wandelt sich in der Tat Antigone nun zu der Heiligen."
Sophokles ist als der unglückliche Urheber dieses geheimnisvollen Expressio-
nismus anzusprechen: „So eben hatte Sophokles in seinen Tragödien die
Schürzung des Schicksals, die zufällige Entstehung der schwierigen Situationen
in die Vorgeschichte verlegt und die Tragödie in dem Augenblick erst beginnen
lassen, in dem die unerforschlichen Gewalten furchtbar über dem Menschen
zusammenschlagen und dieser sein Heldentum an ihnen beweisen kann.“
Die unerforschlichen Gewalten scheinen sich eigens zu dem Zwecke zu be-
mühen, damit die Dichter ihr Heldentum beweisen können. Sie werden ver-
hältnismäßig einfach mit ihnen fertig, sie schießen, sie übertragen frei oder
sie dichten um. Und die unerforschlichen Gewalten sind die blamierten.
Beide Professoren faseln dauernd von dem neuen großen Menschentum, das
ihre Dichter predigen. Das große Menschentum dieser Dichter besteht darin,
daß sie sich für große Menschen halten und daß sie die anderen zum Glauben
an ihre Größe überreden wollen. Selbst wenn diese Größen Riesen wären,
so ist es noch keine Leistung, Riese zu sein. Und niemals eine künstlerische
Leistung. Dieses Menschentum in der Kunst ist die große Lüge, mit der man
sich über die Kunst hinweghelfen will. Wobei man aber nicht auf die Kunst
verzichtet. Denn der Handel des Lebens, aus dem sich die Händel ergeben,
soll kunstgerecht gemacht werden. Jede Handlung wird kunstgerecht gefordert.
Also muß das Menschentum wohl doch etwas anderes sein. Kunst ist die
Flucht aus dem Leben geworden, das den Menschen eigentlich ganz gut gefällt.
Sie fühlen sich zur Kunst aus Rücksicht auf das höhere Leben verpflichtet,
das sie sich aber aus Vorsicht oder aus Nachsicht nicht sichtbar machen
wollen. Wenn sie nämlich das höhere Leben fünf oder fünfzig Meter höher sehen
würden, käme es ihnen vielleicht gar nicht mehr so erkletternswert vor.
Darum hat man die Höhe vergeistigt, während die Kunst versinnlicht. Große
Geister halten sich immer auf der Höhe auf. Dort ist das Leben reine Luft
und sie können sich mit ihm in aller Ruhe auseinandersetzen, weil es sich
ihnen nicht mehr in den Weg stellt. Es ist bequem, sich auseinanderzusetzen,
wenn nichts besetzt ist. Man kann sein freies Menschentum auslegen, ohne
irgendwo anzustoßen. Man stellt sich etwas vor, verstellt es etwas und alle
verstehen sich. Das Ganze ist dann der höhere Standpunkt. Werden solche
Angelegenheiten mit Begriffen festgehalten, nennt man es Literatur. Das
ganze höhere Menschentum ist eine Ausrede für ungelöste menschliche
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dichtet in seiner Antigone den Sophokles nicht nach, sondern um und unter
seinen Händen wandelt sich in der Tat Antigone nun zu der Heiligen."
Sophokles ist als der unglückliche Urheber dieses geheimnisvollen Expressio-
nismus anzusprechen: „So eben hatte Sophokles in seinen Tragödien die
Schürzung des Schicksals, die zufällige Entstehung der schwierigen Situationen
in die Vorgeschichte verlegt und die Tragödie in dem Augenblick erst beginnen
lassen, in dem die unerforschlichen Gewalten furchtbar über dem Menschen
zusammenschlagen und dieser sein Heldentum an ihnen beweisen kann.“
Die unerforschlichen Gewalten scheinen sich eigens zu dem Zwecke zu be-
mühen, damit die Dichter ihr Heldentum beweisen können. Sie werden ver-
hältnismäßig einfach mit ihnen fertig, sie schießen, sie übertragen frei oder
sie dichten um. Und die unerforschlichen Gewalten sind die blamierten.
Beide Professoren faseln dauernd von dem neuen großen Menschentum, das
ihre Dichter predigen. Das große Menschentum dieser Dichter besteht darin,
daß sie sich für große Menschen halten und daß sie die anderen zum Glauben
an ihre Größe überreden wollen. Selbst wenn diese Größen Riesen wären,
so ist es noch keine Leistung, Riese zu sein. Und niemals eine künstlerische
Leistung. Dieses Menschentum in der Kunst ist die große Lüge, mit der man
sich über die Kunst hinweghelfen will. Wobei man aber nicht auf die Kunst
verzichtet. Denn der Handel des Lebens, aus dem sich die Händel ergeben,
soll kunstgerecht gemacht werden. Jede Handlung wird kunstgerecht gefordert.
Also muß das Menschentum wohl doch etwas anderes sein. Kunst ist die
Flucht aus dem Leben geworden, das den Menschen eigentlich ganz gut gefällt.
Sie fühlen sich zur Kunst aus Rücksicht auf das höhere Leben verpflichtet,
das sie sich aber aus Vorsicht oder aus Nachsicht nicht sichtbar machen
wollen. Wenn sie nämlich das höhere Leben fünf oder fünfzig Meter höher sehen
würden, käme es ihnen vielleicht gar nicht mehr so erkletternswert vor.
Darum hat man die Höhe vergeistigt, während die Kunst versinnlicht. Große
Geister halten sich immer auf der Höhe auf. Dort ist das Leben reine Luft
und sie können sich mit ihm in aller Ruhe auseinandersetzen, weil es sich
ihnen nicht mehr in den Weg stellt. Es ist bequem, sich auseinanderzusetzen,
wenn nichts besetzt ist. Man kann sein freies Menschentum auslegen, ohne
irgendwo anzustoßen. Man stellt sich etwas vor, verstellt es etwas und alle
verstehen sich. Das Ganze ist dann der höhere Standpunkt. Werden solche
Angelegenheiten mit Begriffen festgehalten, nennt man es Literatur. Das
ganze höhere Menschentum ist eine Ausrede für ungelöste menschliche
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