nur wandern unter dir mit silbernen
Füssen!
einmal beleckst du meine Stirne
alle leben wir in deinem Stall
Tibor Dery
Tran 24 / die Schwanenjungfrau
Was man kaut, wird Brei (Ernst Lehmann)
Sinnbild für die brave Kritik
Der hannoversche Maler und Dichter
Kurt Schwitters hat ein Sinnbild für die
brave Kritik geschaffen, das eine natur-
getreue Nachbildung des Querschnittes
aus den Kritiken in Tageszeitungen ist.
Die Tagespresse über Kunst, sozusagen
Tageskunstpresse, hat ein Kinderkleidchen
an. Keusch und tüchtig hat sie ein
Schürzchen vorgebunden, mit Stickerei-
besatz natürlich, nicht zu verwechseln
mit Stänkereibeschmutz. Beine hat s,ic
keine. Sozusagen ausverkauft. Womit
soll sie also gehen? Auf die Hände.
Aber die sind sozusagen ebenfalls inclu-
sive Arme aus verkauft. Womit soll sie
also zupacken? Mit dem Kopfe. Aber
der Kopf ist weiter nichts, als ein Kleider-
haken. Daran hängt die Tageskunst-
presse. Womit soll sie aber denken?
Zu dem Zwecke hat ihr der Künstler
einen Ersatzreservekopf beigegeben, wie
man solche bei den Büsten verstorbener
altägyptischer Könige in deren Grab-
kammern in den Pyramiden findet. Der
Kopf hat den eigentümlich bellenden
Ausdruck der Tageskunstpresse, Brille
auf der Nase und ein Kopftuch an Stelle
des fehlenden Verstandes. Die Nase ist
rot. Wer Sorgen hat, braucht auch Likör.
Franz Müller
Kunstschaffen
Unter Erziehung versteht man die Methode
der Erwachsenen, sich das Leben der Kinder
und das Leben mit den Kindern leicht zu machen.
Die Methode der Eltern und Erzieherinnen be»
steht im Streicheln, Schlagen, Befehlen oder
Verbieten, die Methode der Schule in Fest»
setjung eines Pensums, was der Mensch inner»
halb bestimmter Jahre auswendig gelernt haben
muß, die Methode der Universitäten und Äka»
demien im Sichhörenlassen von Trauermeistern
und Altgreisen, die Methode der Ministerien
in der Feststellung der Brauchbarkeit des Pensums
für die jeweilige Staatsform. Die Kirche gibt
ihren Segen je nach ihrer Berücksichtigung hinzu,
der bis zum Fluch ausarten kann. Die Kinder
sind sehr erstaunt, was die Menschheit alles von
ihnen will und nicht will und fügen sich im
Laufe der Jahre der physischen Gewalt. Gute Ge»
dächtnisse werden durch Verleihung lateinischer,
also wissenschaftlich klingender Titel im reiferen
Alter belohnt. Hochgeistige Menschen nennen
diese Scherze Pädagogik.
In Berlin behüten die Zentralbehörden die Päda»
gogik, damit dem braven System nichts ge»
schiebt.
In Weimar modernisiert man das Kunstgewerbe
durch Kunst. Die Mädchenpensionate erhalten
einen Separatkursus, weil die genic loci dort
Spuren von ihren Ehrentagen hinterlassen haben.
Stuttgart hat das Glück, unbekannt zu sein.
Stuttgart liegt in Württemberg. Deutschland
weih nur, daß dort ein älterer Herr mit Um»
hängebart sich jedem LIntertan in den Schoß
legen konnte. Das Schlafbedürfnis der jeweiligen
Regierung hat die strenge Beaufsichtigung des
Erziehungsystems verhindert. Einige wache
Männer haben mit dem Erziehen einfach auf«
gehört und dadurch eine Oase für Kinder, oder
die es werden wollen, geschaffen. Der eine brave
Mann heißt Adolf Holzel. Er gab den
Schülern der Akademie Ateliers und ließ sie ge»
währen. Sein LInterricht bestand im Sehenlassen,
im Zusehen und im Aufsehen. Der Erfolg war,
daß die Akademieschüler die Kunst aufgaben oder
Künstler wurden. Der zweite Stuttgarter heißt
Albrecht L. Merz. Er hat es noch besser,
denn er hat sich nur mit Kindern zu beschäftigen.
Er beschäftigt sich mit den Kindern, er be«
schäftigt nicht die Kinder. Und da jedes Kind
seinen Namen haben muß, heißt es: „Werkhaus
mit Werkschule (Freie Akademie mit staatlich
anerkannter Versuchsgrundschule)“. Die An«
erkennung des Staates beruht im Gewähren»
lassen. Der Staat sollte in diesen Angelegenheiten
tatsächlich nur als Raumvermittlungsstelle auf»
treten. Auch der Staat Preußen stellte einen
42
Füssen!
einmal beleckst du meine Stirne
alle leben wir in deinem Stall
Tibor Dery
Tran 24 / die Schwanenjungfrau
Was man kaut, wird Brei (Ernst Lehmann)
Sinnbild für die brave Kritik
Der hannoversche Maler und Dichter
Kurt Schwitters hat ein Sinnbild für die
brave Kritik geschaffen, das eine natur-
getreue Nachbildung des Querschnittes
aus den Kritiken in Tageszeitungen ist.
Die Tagespresse über Kunst, sozusagen
Tageskunstpresse, hat ein Kinderkleidchen
an. Keusch und tüchtig hat sie ein
Schürzchen vorgebunden, mit Stickerei-
besatz natürlich, nicht zu verwechseln
mit Stänkereibeschmutz. Beine hat s,ic
keine. Sozusagen ausverkauft. Womit
soll sie also gehen? Auf die Hände.
Aber die sind sozusagen ebenfalls inclu-
sive Arme aus verkauft. Womit soll sie
also zupacken? Mit dem Kopfe. Aber
der Kopf ist weiter nichts, als ein Kleider-
haken. Daran hängt die Tageskunst-
presse. Womit soll sie aber denken?
Zu dem Zwecke hat ihr der Künstler
einen Ersatzreservekopf beigegeben, wie
man solche bei den Büsten verstorbener
altägyptischer Könige in deren Grab-
kammern in den Pyramiden findet. Der
Kopf hat den eigentümlich bellenden
Ausdruck der Tageskunstpresse, Brille
auf der Nase und ein Kopftuch an Stelle
des fehlenden Verstandes. Die Nase ist
rot. Wer Sorgen hat, braucht auch Likör.
Franz Müller
Kunstschaffen
Unter Erziehung versteht man die Methode
der Erwachsenen, sich das Leben der Kinder
und das Leben mit den Kindern leicht zu machen.
Die Methode der Eltern und Erzieherinnen be»
steht im Streicheln, Schlagen, Befehlen oder
Verbieten, die Methode der Schule in Fest»
setjung eines Pensums, was der Mensch inner»
halb bestimmter Jahre auswendig gelernt haben
muß, die Methode der Universitäten und Äka»
demien im Sichhörenlassen von Trauermeistern
und Altgreisen, die Methode der Ministerien
in der Feststellung der Brauchbarkeit des Pensums
für die jeweilige Staatsform. Die Kirche gibt
ihren Segen je nach ihrer Berücksichtigung hinzu,
der bis zum Fluch ausarten kann. Die Kinder
sind sehr erstaunt, was die Menschheit alles von
ihnen will und nicht will und fügen sich im
Laufe der Jahre der physischen Gewalt. Gute Ge»
dächtnisse werden durch Verleihung lateinischer,
also wissenschaftlich klingender Titel im reiferen
Alter belohnt. Hochgeistige Menschen nennen
diese Scherze Pädagogik.
In Berlin behüten die Zentralbehörden die Päda»
gogik, damit dem braven System nichts ge»
schiebt.
In Weimar modernisiert man das Kunstgewerbe
durch Kunst. Die Mädchenpensionate erhalten
einen Separatkursus, weil die genic loci dort
Spuren von ihren Ehrentagen hinterlassen haben.
Stuttgart hat das Glück, unbekannt zu sein.
Stuttgart liegt in Württemberg. Deutschland
weih nur, daß dort ein älterer Herr mit Um»
hängebart sich jedem LIntertan in den Schoß
legen konnte. Das Schlafbedürfnis der jeweiligen
Regierung hat die strenge Beaufsichtigung des
Erziehungsystems verhindert. Einige wache
Männer haben mit dem Erziehen einfach auf«
gehört und dadurch eine Oase für Kinder, oder
die es werden wollen, geschaffen. Der eine brave
Mann heißt Adolf Holzel. Er gab den
Schülern der Akademie Ateliers und ließ sie ge»
währen. Sein LInterricht bestand im Sehenlassen,
im Zusehen und im Aufsehen. Der Erfolg war,
daß die Akademieschüler die Kunst aufgaben oder
Künstler wurden. Der zweite Stuttgarter heißt
Albrecht L. Merz. Er hat es noch besser,
denn er hat sich nur mit Kindern zu beschäftigen.
Er beschäftigt sich mit den Kindern, er be«
schäftigt nicht die Kinder. Und da jedes Kind
seinen Namen haben muß, heißt es: „Werkhaus
mit Werkschule (Freie Akademie mit staatlich
anerkannter Versuchsgrundschule)“. Die An«
erkennung des Staates beruht im Gewähren»
lassen. Der Staat sollte in diesen Angelegenheiten
tatsächlich nur als Raumvermittlungsstelle auf»
treten. Auch der Staat Preußen stellte einen
42