DER STURM
HERAUSGEBER HERWARTH WALDEN
Über allen Gipfeln
Die metergroßen Dichter der Gegenwart
Mit der Geistesseuche, die man Literatur nennt, ist es wie mit allen Seuchen:
man kann sie nicht heilen, nur bekämpfen. Außerdem leben so viele
Leute von dieser Seuche, daß ein gewisses gemeinsames Interesse an ihrer
Erhaltung vorhanden ist Es gibt viele Herren und Damen, die Literatur
schreiben und ebensoviele, die darüber schreiben. Wenn man diese Literatur
künstlerisch betrachtet, so entsteht der Humor, der insbesondere den Deutschen
fehlt Das Lesen einer Literaturgeschichte hingegen ist Humor, namentlich
wenn sie bis auf die Gegenwart fortgeführt ist. Zwei Professoren haben sich
jetzt um die Literatur der Gegenwart bemüht und ich habe eine Art ver-
gleichende Literaturgeschichtengeschichte getrieben, was wieder eine Wissen-
schaft für sich ist. Die positiven Kenntnisse haben beide Herren zweifellos
aus den Feuilletons der deutschen Tagespresse und ihrer kritischen Bericht-
erstattung und aus einigen Anthologien gezogen. Beide Herren prüfen den
gedanklichen Inhalt der Dichtungen, sind mit den Resultaten durchaus zufrieden
und wenden sehr oft das Wort Expressionismus an, wodurch sie sich sehr
modern und radikal vorkommen. Der eine Autor hat auf dem Streifband
sogar festgestellt, daß er ein «lebendiges Spiegelbild des deutschen Geistes-
lebens der letzten vier Jahrzehnte, gipfelnd in den Namen Gerhart Hauptmann,
Thomas Mann, Stefan George und Franz Werfel“ geschaffen hat. Das Spiegel-
bild mit Gipfel ist ein Bild für sich, das lebendige Spiegelbild mit Gipfel ist
wirklich ein Blick in das deutsche Geistesleben. Es ist der Gipfel. Warum
sollen aber die Professoren sehen können, wenn es die Dichter nicht
tun. Oder wenn die Dichter erst ein Bild sehen müssen, um sich davon einen
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HERAUSGEBER HERWARTH WALDEN
Über allen Gipfeln
Die metergroßen Dichter der Gegenwart
Mit der Geistesseuche, die man Literatur nennt, ist es wie mit allen Seuchen:
man kann sie nicht heilen, nur bekämpfen. Außerdem leben so viele
Leute von dieser Seuche, daß ein gewisses gemeinsames Interesse an ihrer
Erhaltung vorhanden ist Es gibt viele Herren und Damen, die Literatur
schreiben und ebensoviele, die darüber schreiben. Wenn man diese Literatur
künstlerisch betrachtet, so entsteht der Humor, der insbesondere den Deutschen
fehlt Das Lesen einer Literaturgeschichte hingegen ist Humor, namentlich
wenn sie bis auf die Gegenwart fortgeführt ist. Zwei Professoren haben sich
jetzt um die Literatur der Gegenwart bemüht und ich habe eine Art ver-
gleichende Literaturgeschichtengeschichte getrieben, was wieder eine Wissen-
schaft für sich ist. Die positiven Kenntnisse haben beide Herren zweifellos
aus den Feuilletons der deutschen Tagespresse und ihrer kritischen Bericht-
erstattung und aus einigen Anthologien gezogen. Beide Herren prüfen den
gedanklichen Inhalt der Dichtungen, sind mit den Resultaten durchaus zufrieden
und wenden sehr oft das Wort Expressionismus an, wodurch sie sich sehr
modern und radikal vorkommen. Der eine Autor hat auf dem Streifband
sogar festgestellt, daß er ein «lebendiges Spiegelbild des deutschen Geistes-
lebens der letzten vier Jahrzehnte, gipfelnd in den Namen Gerhart Hauptmann,
Thomas Mann, Stefan George und Franz Werfel“ geschaffen hat. Das Spiegel-
bild mit Gipfel ist ein Bild für sich, das lebendige Spiegelbild mit Gipfel ist
wirklich ein Blick in das deutsche Geistesleben. Es ist der Gipfel. Warum
sollen aber die Professoren sehen können, wenn es die Dichter nicht
tun. Oder wenn die Dichter erst ein Bild sehen müssen, um sich davon einen
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