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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Walden, Herwarth: Für die Kunst gegen die Künstler
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Peeters, Jozef: Die flämische Kunst der Avantgarde
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0010

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eben fassen kann. Nämlich sinnlich fassen.
Auch das Unfassbare gestaltet sich sinn-
lich, also fassbar. Die Fähigkeit der
sinnlichen Auffassung wird planmässig
vernichtet. Das Kind soll nicht greifen,
es muss begreifen. Die Griffe werden
festgelegt und werden Begriffe. An-
schauungen werden nicht gesehen, son-
dern vertreten. Und die vertretenen An-
schauungen werden verstanden. Und die
verstandenen Begriffe werden vertreten.
Die Sinne werden versonnen. Und nach-
dem man nun alles verdreht hat, ver-
ficht man eine Weltanschauung. Diese
Weltanschauung wird Lebensklugheit ge-
nannt, worunter man die Fähigkeit ver-
steht, sich hinter dem Leben vorbeizu-
drücken. Das will und muss allerdings
gelernt werden. Das Kind erhält eine
Uebersicht über alle Gebiete, damit es
die Gebiete nicht mehr sieht. Das Kind
wird überhört, damit es nur nicht mehr
hört. Das Fassen wird ihm verboten,
damit es in die richtige Verfassung
kommt. Es lernt sogar den guten Ge-
schmack, damit es nicht mehr schmeckt.
Das Resultat dieser Verziehung wird Er-
ziehung, das Resultat dieser Verbildung
Bildung genannt. Hierauf erfolgt die freie
Berufswahl. Auch Fleiss und Faulheit
sind nur Unterschiede der Intensität,
nicht der Qualität. Die Triebkraft des
Menschen nennt man Hunger. Den Hunger
des Geschlechtes nennt man Liebe. Den
Hunger der Sinne Kunst. Da der Ge-
schlechtssinn nun einmal auch ein Sinn
ist, wird die Befriedigung des Geschlechts-
sinnes allzuoft mit der Kunst verwech-
selt, weil eben Kunst die Befriedigung
der Sinne ist. Auge und Ohr und Zunge
und Glieder sind dank unserer gross-
artigen Kultur verbildet. Nun regt sich
im jungen Menschen der Geschlechtssinn,
der bekanntlich in der Schule aus mora-
lischen Gründen nicht verbildet wird.
Die Lehrerschaft ist grundsätzlich gegen
den Geschlechtssinn. Sie empfinden ihn
als einen peinlichen Eingriff in ihre wohl-
verständigen Methoden. Umsomehr, da
sie ihn nicht lehren dürfen. Er ist nun
aber einmal in den jungen Menschen vor-
handen und sie haben noch nicht die
Lebensklugheit der erwachsenen Götter,
ihn zu verbergen. Sie machen sich nach
der übrigen Methodik aus ihm einen Be-
griff und machen Kunst. Sie dichten und
malen sich das andere Geschlecht. Sie
suchen sich das Sinnliche zu versinn-
lichen. Alle jungen Menschen fühlen

sich daher zu Künstlern berufen. Und
sie werden Berufskünstler, wenn sie ab-
solut nicht aus der Pubertät heraus-
kommen. Sie machen sich Abbilder und
glauben, Bilder geschaffen zu haben.
Sie sprechen von ihrem H unger und glauben,
Dichter zu sein. Sie haben verlernt, die
Farben zu sehen und die Wörter zu hören.
Sie schreiben Natur und sie lesen Ge-
fühle. Und sie sind Künstler für die
Leute, die ihre Zeit für Schreiben und
Lesen nicht verwenden können und wollen,
und die lieber Geschriebenes lesen und
Gelesenes sprechen. Und die Kunst wird
am höchsten geschätzt, die keine Be-
tätigung der Sinne der anderen erfordert.
Die Kunst als Hunger der Sinne ist also
keine Angelegenheit der Kenner. Sie ist
eine Naturnotwendigkeit wie jeder Hunger.
Sie ist ein Bedürfnis der Menschheit, das
befriedigt werden muss. Und ebenso-
wenig wie eine unbekömmliche Kost
öder gar eine Abstraktion der Kost
den Magen befriedigt, ebensowenig kann
die Kunst dieser Berufskünstler die Sinne
befriedigen. Das Volk, das heisst die
Gesamtheit der Menschen, hat mit Recht
kein lebendiges Verhältnis zu dieser Kunst.
Die Jugend noch weniger. Denn sie
schafft sich eine Kunst selbst, die Kunst
ist. Die nämlich den Hunger von Auge
und Ohr befriedigt.
Kunst wird der Menschheit nur dann
etwas sein, wenn man die Jugend ge-
währen lässt. Wenn man die Triebe
gestalten lässt, statt sie schematisch dar-
zustellen.
Nur wenn sich eine Generation entschliesst,
nicht mehr Götter für die Kinder spielen
zu wollen, werden die Kinder spielend
aus den Göttern Menschen schaffen.
Wesen, die den Sinn der Welt aus der
Welt der Sinne fassen, sichtbar und hör-
bar gestalten und in der Gestaltung
sinnliche Erlebnisse, in der Kunst das
Leben der Sinne leben und erleben.
Herwarth Walden


Die flämische Kunst der Avant-
garde
Es ist ziemlich verwegen von einer jung-
flämischen Plastik zu reden. Klima und
Bodenbeschaffenheit dürften wohl ihren

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