Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste (15.1924)

DER STURM ✓ ZWEITES VIERTELJAHRHEFT

Empfängnis
Die große Mutter träumt über ihrem schweren Schoß
Im Früchtesegen liegt ein Kindlein bloß und träumt
Das immer neue Lied summt säuselnd um den Menschenleib
Glückhafte Segel schweben übers Meer
Die Woge rollt und steigt und fällt und rollt
Du hältst das himmlische Licht in dunkler Brust
Die Strahlenknospe wächst
In einen fremden Garten ist der Baum gepflanzt
Die treuen Hüter halten Wacht
Das Himmelsauge ist ein weißes Kreuz
Du öffnest deinen Blick zum Trost dem armen Bruder
In deine Kammer flieht das arme Tier
Niemand sieht deine Tat
Im Wogemeer bist du getauft
Das Salz der Erde brennt auf deinem Mund
Die toten Ertrunkenen schwimmen an dir vorbei
Die Segel schaukeln an dir vorbei
Die Gestirne erheben sich und sinken an dir vorbei
Das Wasser des Lebens ist eine Träne der himmlischen Mutter
Die himmlische Mutter hält dich auf ihrem Schoß
Du trinkst die Träne der himmlischen Mutter
Die Liebende nährt das Kind
Vor Tag ist die Stunde gekommen
Die weiße Taube schwebt über dem Meer
Über die stürmenden Wogen ist eine stille Straße geweht
Zwischen den Stürmen wandert der stille Wandrer dir zu

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Lothar Schreyer