Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste (15.1924)

Menschen, trotz technischer Allerweltsfertigkeit, über-
legen bleibt. Wir sind nicht fähig, die Beziehungen
erkenntnismäßig und praktisch bis ins Letzte und
Entscheidende zu beherrschen, die unsere Erdennatur
in einen Strom kosmischer Gewalten treiben läßt.
Der Strom reißt ins Grenzenlose und bleibt ein
Schauspiel mythisch-erhabener und geheimnisvoller
Naturerscheinungen und Mächte. Diese Erschütterung
vor dem Geheimnis der Natur, jenseits aller Grenzen
menschlicher Einsicht und Einflußnahme, ist ein
romantischer Wiederklang der von Christentum und
europäisch-bürgerlichem Kulturdrill verschütteten heid-
nisch-magyarischen Natur-Religiosität. Zu plastischen
Personifizierungen nunmehr unfähig, erhebt sie ihr
allbewegendes mythisches Weltprinzip als eine
gigantische Rhapsodie von Gebirgsketten, Seen,
Wolkenzügen,Planetenläufen undHimmelslichibahnen.
Ernst Källai

Philosophische Walpurgisnacht
Der unkundige Leser wird mit Erstaunen hören,
daß es einen Mann gab, der da behauptete, eine
heute noch unbekannte exakte, das heißt im Range
der Mathematik und Physik ebenbürtige, daher ganz
und gar unanfechtbare und gänzlich neue Wissen-
schaft entdeckt zu haben, von der man sich (wie
er sich selbst ausdrückt) „bis dahin nichts habe
träumen lassen“. Er wird erstaunt sein, daß dieser
Mann sich wegen seiner Entdeckung mit Kopernikus
verglich. Er wird sagen: „Der Mann hat Mut“
oder „ein verflucht bescheidener Kerl“. Aber der
dies sagte, war in der Tat ein sehr bescheidener,
guter, anspruchsloser Mann, der nichts sehnlicher
hoffte, als daß er im Jenseits nicht etwa mit seinen
großen Kollegen von der Philosophie, sondern mit
seinem alten Diener Lampe zusammentreffe und
zwar deswegen, weil er die Gesellschaft besonders
rechtschaffener Seelen jeder andern vorzog. Der
dies sagte, war ferner ein Mann, der nicht nur der
Lüge, sondern auch der fahrlässigen Verletzung der
Wahrheit, besonders aber der fahrlässigen Ver-
breitung von Irrtümern im höchsten Grade abhold
war. Er war ferner ein Mann, der zuerst eine
heute im wesentlichen anerkannte Wissenschaft von
der Entstehung des Fixsternsystems begründete und
zwar bis ins einzelne. Dieser Mann ist unser alter,
lieber, den meisten Menschen nur durch dunkle
Gerüchte und sich widersprechende Zwischenträge-
reien nicht sowohl bekannte als genannte Kant.
Aus: „Philosophische Walpurgisnacht. Vorspiel zu
der philosophischen Trilogie von Ernst Marcus
Das Erkenntnisproblem

Wie man mit der Radiernadel philosophiert
2,50 Mark / Verlag Der Sturm / Berlin W 9
Die Walpurgisnacht, die nicht als Frühlingser-
scheinung vorübergegangen ist, sondern in, um und
um Königsberg herum aufgeführt wurde, hat alle
Welt noch dümmer gemacht, als sie schon war.
„Die Wächter und Hüter, die als Kantforscher
auftreten“, haben wieder gründlich dafür gesorgt,
daß das Problem verschüttet werde. Es gibt nur
einen Kantkenner und einen Kantforscher. Er
heißt Ernst Marcus.
Sein „Erkenntnisproblem“ ist die klarste Ein-
führung in das Werk Immanuel Kants.

Aus meinem Traumbuch
Ein Engländer schrieb das Wort „Tauentzienstraße“
vor meinen Augen so:
Town seen Strasse
*
Ein Theaterkritiker schrieb von einem Darsteller:
„Er blieb uns viel vom Text schuldig. Wir werden
den Restbetrag durch Nachnahme von ihm erheben.“
*
In einem Hoftheater unseres ancien regime stellte
sich mir ein Logenschließer als ehemaligen Intendanten
vor. Er war nicht damit zufrieden, daß man dem
Heldentenor ohne weitere Umstände einen Kranz
überreicht hatte. „An unserer Bühne sorgte ich da-
für, daß stets ein Vertreter meines Regiments zur
Stelle war, der den ersten Kranz erhielt. Und
dann meinetwegen dem Sänger den Kranz auf den
Bauch.“ Rudolf Blümner


Aus der Wallonie
Die neue Kunst ist in Belgien durch die Gründung
verschiedener literarischer Gruppen in die Erscheinung
getreten. Die Bewegung, die, wie hier alles andere,
von Frankreich zu erwarten war, ging von Flandern
aus. Aber schon während des Krieges erschien in
Wallonien eine Zeitschrift der radikal modernen Rich-
tung „Resurrection“. Ihre Mitarbeiter, die sich
seitdem bei der jüngeren Generation einen Namen
gemacht haben, waren: Guy Boscart, Rene
Verboom, Ernst Stadler, Charles Villdrac,
ClementPansaers, P. I. Jouve. Diese Gruppe
veröffentlichte ihre Wochenschrift im Jahre 1918.
Namur war ihr Zentrum. Die Veröffentlichungen dieser
extremen Gruppe beabsichtige ich in nächster Zeit zur
Grundlage eines eingehenden Studiums zu machen.

115