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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Heynicke, Kurt: Legende von der unbefleckten Empfängnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0158
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DER STURM/DRITTES VIERTELJAHRHEFT

Fine vergeht vor der Welt und taucht in Andacht, lange. Aber als sie emporkommt
aus ihrer Versunkenheit und nach dem Mann neben ihr tastet, ist der Platz leer. Da
geht ein großes Beben durch den Leib des Weibes und sie fühlt das Schwert zum
zweiten Male durch ihre Seele gehen. Knieend noch hebt sie den halben Blick auf
zur Madonna mit der stummen Bitte: Wende ab das Leid. Aber die Madonna sieht
geradeaus, durch das bunte Heiligenfenster, in den Abend, der draußen liegt.
Wieder läuft die Zeit und rennt durch den Winter. Die Frucht wächst, aber Fine
verbirgt ihren Zustand vor den Menschen und der Himmel hilft ihr. Das Kind kommt.
Es geht aus ihrem Leibe ohne Hilfe. Niemand erfährt es.
Alle Liebe hüllt das Neugeborene ein. Die Bangnis, daß nicht der Weggang des
Geliebten das Opfer sei, daß die Himmlischen unendlich Schwereres wollen, unterdrückt
Fine. Wie konnte Maria so gnadenlos sein, sie, eine Mutter!
Tiefer doch ist der Weg der unbegriffenen Wesen: das Kind beginnt zu kränkeln.
Seine Gliederchen magern, das kleine Antlitz wird fahl, Falten graben sich in die
junge Haut.
Fine gewahrt es mit Grauen. Sie läuft zu Ärzten, die finden nichts und geben guten
Rat. Sie sorgt und nährt, das Kind zerfällt. Und überbürdet von Qual fällt das
Mädchen vor dem Bett des Knaben in die Kniee: „So wollt Ihr es mir nehmen,
es töten, daß es mein nicht mehr sei? Laßt es doch leben, es hat Euch nichts getan!“
Ohnmacht reißt sie zu Boden.
Als sie dann wieder emporkommt aus der Bewußtlosigkeit, da ist ihr, als komme
die Mutter Gottes durch die Tür und weise mit Lächeln auf den Arm, der leer und
ohne den göttlichen Knaben ist.
Fine schwankt zum Bett und hüllt das Kind ein, daß sie den schweren Gang noch
tue zur Morgenfrühe, und das Kind Maria bringe.
Wieder blühen die Kastanien im Park. Hellgrün blinkt der Rasen im Tau. Still
sind die Straßen noch und Fine hastet hindurch, mit dem Bündel auf dem Arm,
Brennen im Herzen.

In den Kirchenbüchern findet man später unter diesem Tage einen eigenen Vermerk:
„Es sei ein Kind gefunden worden vor dem Altar Marias, und es sei ein schöner,
gesunder und makelloser Knabe gewesen, auf seiner Stirne habe eine Flammenzunge

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