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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 3
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Déry, Tibor: Der Bildbauer: Dichtungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0042
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Der Bildbauer
Dichtungen
Tibor Dery
der Mensch öffnete die Augen und wandte
seine Stirne zum Himmel
aus Erde knetete er eine Statue der Kuh,
stellte sie ins Gras
das Bild hob den Kopf und sang wie der Mond,
in langen Reihen wanderten die Greise unter
seine Euter: Goldmilch, sagten sie, Goldmi 1 ch ’
aus dem Maul der Statue stieg Atem, darin
die Kinder Sterne fanden
unter ihrer Zunge wuchs Gras
aus den Bergen flog eine Wolke über ihren
Rücken
sie hob die Füße und lief rascher als die
Tiere, diese schlossen sich in langen
Schwärmen an
du lebst, du lebst: sagten die kleinen Kühe
und rieben sich an ihre gewaltige Brust
viele aßen von ihrem Körper
viele tranken von ihrem Körper
viele gebaren Kinder im Schatten ihrer Stirne
und starben
ein Blinder klammerte sich an ihren Schwanz
und rief: ich sehe dich nicht
die Statue blieb stehen und aus ihren Augen
beugte sich die Sonne zum Himmel
es wurde ganz licht
Rosa Luxenburg
manchmal dämmert es und die Oelkegel ent-
brennen über dem Tal
der Wind zerstreut das Gelblicht
und die Erde wird durchsichtig bis auf den
Grund, wo unsere unerklärlichen Geheim-
nisse wandern
warum erlöscht der Glanz?
wieder fällt Nebel
versunken ist der Augenblick, schon dehnen

sich unsere Gumischatten unter den Bergen
und dem Moos entschweben wasserfarbene
Engel, winken mit roten Laternen
man muß stehenbleiben
wir wachen mit Händen, die aus Brot sind
und in der Dunkelheit vergeblich wachsen
Alle tasten nach uns
sie laufen
vielleicht erblicken sie die Tauben über un-
seren Köpfen
man töte die Bösen
ich kann nicht lauter sprechen denn ich bin
schon gestorben
kommet unter den warmen Rock eurer Mutter
verzehret meinen Körper
Mitternacht
das Licht am Hügel aufgedreht
halb brennt der Teich
große Engel eilen über ihm, entführen die
Toten
zwischen den Algen leuchtet mit Gaslicht ein
steckengebliebenes Herz, die Fische er-
glühen gelb
aber der Luftzug entreißt mir meine schwar-
zen Lieder
Fußspuren und leere Räder laufen; in der
dunklen Allee
in einer Drahtglocke fliegt dichtes Mondblut,
verschwindet plötzlich, leer entschwebt die
Glocke
mit zerbrochenen Stirnen viele Vögel sie um-
flatterten
nun rieseln ihre kleinen Pfiffe von meinen
Händen herab
die Mücken setzen sich auf dunkle Flächen
lind die Glasplatte, auf welcher die rätsel-
haften Mütter ihre Kinder gebären, ent-
fliegt über den Bäumen
auch das Lied knickt ein
die Sonne geht nicht auf:
unglückselige Menschen!

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