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Sydow, Eckart von
Primitive Kunst und Psychoanalyse: eine Studie über die sexuelle Grundlage der bildenden Künste der Naturvölker — Leipzig, Wien, Zürich: Internationler Psychoanalytischer Verlag, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.69943#0113
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102 Primitive Kunst und Psychoanalyse
aus. Eine Mittellinie zieht sich vom Scheitel über Nase — Mund —
Kinn — Brustmitte — Nabel bis zum Geschlechtsorgan; auf beiden
Seiten regen sich die Formkräfte in durchaus analoger Art. Die
Gleichwertigkeit der beiden Seiten, Körperhälften wird durch ge-
naue Gegenseitigkeit der Kraftimpulse und ihrer figürlichen Sym-
bole erreicht.
Problematisch kann allein die Übersteigerung der Größe
desKopfes anmuten. Aber auch diese frappierende Eigentümlichkeit
wird aus dem Bilde des aufgerichteten Phallus als erogen fundiert
klar. Denn dann zeigt sich, daß die Eichel unverhältnismäßig
groß ist gegenüber dem Gliede als solchem. Das Größenverhältnis von
Eichel und Glied entspricht genau jener Übergröße des Kopfes
primitiver Figuren! Jetzt wird auch klar, weshalb die Masken-
kostüme einen so außerordentlichen Wert auf die Maske selbst
legen, — in ihr drängt sich alle Wichtigkeit zusammen, weil sie
das Symbol des lustempfindlichsten Körperteils ist!
Überdies erklärt sich auch auf diese Weise die hohe Haltung
der meisten naturvölkischen Bildnereien. Sie scheinen fast ausnahms-
los, selbst dann, wenn sie sitzend gegeben sind, eine Disziplin in
sich zu haben, die sie strafft und aufrecht erhält. Es war ein nicht
ganz und gar täuschendes Grundgefühl in dem immerhin abschätzigen
Urteil der meisten bisherigen Beurteiler: daß die Haltung der natur-
völkischen Arbeiten „starr“ sei, — in der Tat ist sie das und wir
haben die organische Quelle und Bedingung dieses Kennzeichens
soeben angegeben.1
i) Es scheint mir nicht unumgänglich, die gleiche Vorbedingung bei den
starren Figuren der griechischen Archaik, indischer Buddhastatuen usw. an-
zunehmen, da hier die Übergröße des Kopfes fehlt. Bei den Kulturvölkern
tritt der religiöse Ritualismus mit seiner geistigen Faszination auf und mag
auf seine Weise ähnliche Wirkung hervorbringen, wie der Phallismus bei
den naturgebundenen Völkern. Für die Entscheidung dieses Problems sind
noch umfangreiche Spezialstudien erforderlich.
 
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