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Taine, Hippolyte
Reise in Italien (2. Band): Florenz et Venedig — Leipzig: Eugen Diederichs, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.53634#0281
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DIE VENEZIANISCHE MALEREI

269

Florenz verglichen, welches das andere Zentrum bildet, ist es
eine Wasserwelt neben einer Erdwelt. Der Gesichtskreis ist für
den Menschen nicht derselbe. An Stelle von deutlichen Um-
rissen, tiefen Tönen, unbeweglichen Flächen sieht das Auge
unaufhörlich zunächst eine sich bewegende glänzende Ober-
fläche, ein mannigfaltiges dauerndes Sprudeln von Licht,
eine entzückende Mischung geäderter und verschmolzener
Töne, welche sich ohne feste Grenzen in ihren Nachbaren
fortsetzen, dann einen weichen rauchigen Schleier, den die
unaufhörliche Verdampfung über das Wasser breitet, um
die Formen zu verhüllen, die Fernen blau zu tönen und
im Himmel grosse Wolken aufzutürmen, und endlich den
Gegensatz, welcher überall die starke harte und glänzende
Farbe des Wassers der matten steinigen Farbe der Bauten
gegenüberstellt, die jenes bespült. Das, was in einem trocke-
nen Lande dem Auge aufiallt, ist die Linie, in einem feuchten
Lande ist es der Farbfleck. Man sieht das an Flandern und
Holland: das Sehen hat sich dort nicht auf die Zartheiten
des Umrisses gerichtet, den die feuchte dazwischenliegende
Luft halb umnebelt, sondern es ist haften geblieben an den
Harmonien des Farbentones, den die allgemeine Frische
belebt und die wechselnde Dichtheit des umgebenden Dunstes
tönt. Ebenso ist in Venedig — äusser den Unterschieden,
welche dies grau-grüne Wasser und diese purpurbegossenen
Sandflächen von dem fahlen Schlamm und dem rauchigen
Himmel Amsterdams und Antwerpens trennen — das Auge
wie in Antwerpen und Amsterdam ein Kolorist geworden.
Der Beweis dafür liegt in den ersten Bauten der Venezianer,
in jener Buntheit des Porphyrs, des Serpentinsteines und
der kostbaren Marmorarten, welche ihre Paläste bekleiden,
in jenem dunklen, goldgesternten Purpur, welcher San Marco
erfüllt, in ihrem ursprünglichen und beharrlichen Geschmack
für die glänzenden Farbentöne und leuchtenden Stickereien
des Mosaiks und in der Lebhaftigkeit und dem Glanz ihrer
ältesten nationalen Malerei. Vivarini, Carpaccio, Crivelli,
 
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