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Taine, Hippolyte
Reise in Italien (2. Band): Florenz et Venedig — Leipzig: Eugen Diederichs, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.53634#0283
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DIE VENEZIANISCHE MALEREI

271

Calabriens, einen Russen mit einem Araber.* Wir kennen
die genauen Regeln noch nicht, welche von der mehr oder
weniger kalten oder feuchten Luft die Nahrung, Atmung,
Muskelkraft, Gefühlsfähigkeit und die Entstehung verschied-
ner Vorstellungsarten abhängig machen, aber es ist offenbar,
dass es solche Regeln gibt. Klima, physisches Tempera-
ment und geistiger Bau hängen überall und gezwungener-
massen zusammen wie die drei aufeinanderfolgenden Ringe
einer Kette, wer den ersten von seinem Platze entfernt,
verdrängt den zweiten und folglich auch den dritten. Venedig
und das Po-Tal sind die Niederlande Italiens, und darum
hat sich Temperament und Charakter dort in demselben
Sinne wie in den Niederlanden umgewandelt. Wie in Flandern
findet man dort weisse und rosige Leiber, blonde oder rote
Haare, überquellendes, weichliches und ein wenig plumpes
Fleisch, welche im Gegensatz stehen zu den schwarzen
Haaren, der beweglichen Magerkeit, dem gemeisselten und
edlen Gesicht und den festen Muskeln der südlichen Italiener.
Wie in Flandern findet man dort leidenschaftlichen Sinn für
sinnliches Vergnügen, äusserstes Streben nach Behagen und
Untergeordnetheit des literarischen oder spekulativen Geistes,
welche einen Gegensatz bilden zu dem feinen urteilenden
zarten, zum Purismus neigenden Verstände, der in allen
Schriften und in dem ganzen Leben der Florentiner west.**
Von ihrem Ursprünge an: die freundliche so wenig klassische
Baukunst, vom fünfzehnten Jahrhundert an die wollüstige
Wendung der Sitten,*** später die Öffentlichkeit sinnlicher
Lust, der sechs Monate dauernde Karneval, die unzähligen
* Ein Wort Wellingtons: „Dort, wo ein französisches Heer das Not-
wendige hat, lebt ein spanisches im Überfluss und stirbt ein eng-
lisches Hungers.“ ** Die Florentiner nannten die Venezianer
grossolani. *** Antonello da Messina, sagt Vasari, liess sich
in Venedig nieder, wo er die Ölmalerei hinbrachte, er wählte
gerade diese Stadt und wurde dort sehr geliebt und umschmeichelt
von den Adligen, da er ein dem Vergnügen e tutta venerea
sehr hingegebener Mensch war.
 
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