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Taut, Bruno
Die Stadtkrone — Jena, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.29957#0058
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schlichten Wohnhäusern der antiken Stadt — sie zeigen, daß die Spitze, das
Höchste, die kristallisierte religiöse Anschauung Endziel und Ausgangs*
punkt zugleich für alle Architektur ist und ihr Licht auf alle die einzelnen
Bauten bis zur einfachsten Hütte hin ausstrahlt und die Lösung der sim-
pelsten praktischen Bedürfnisse mit einem Schimmer ihres Glanzes verschönt.
Von der Tiefe und Kraft der Lebensauffassung im großen hängt nicht allein
das Großgebaute ab, ihre Intensität, ihre Leidenschaft erzeugt erst das Schöne
im kleinen. Sie allein vollbringt die rechte Wertung des Maßstabes, den
die Aufgabe des Architekten in sich trägt, und verhütet die Verwischung
der Grenzen zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem Sakralen und
dem Profanen, an der unsere Zeit krankt. Es war in der Gotik die gleiche
Hingabe, welche die hinreißende Kühnheit der Dome türmte und zugleich
in den einfachen Bauten die restlose Durchdringung der praktischen und
konstruktiven Anforderungen erzeugte.

DIE ALTE STADT

Das Gefüge der alten Stadt ist ein deutliches Abbild des inneren Aufbaues
der Menschen und ihrer Gedanken. Es ist so deutlich, daß wir daran
alles, was die Menschen empfanden, womit sie sich in ihren Seelenfasern
verknüpft fühlten, selber wie eine Architektur der Geister klar vor uns
sehen. Die Hütten, Wohnhäuser, Rathäuser bilden zusammen, gipfelnd im
Dom oder Tempel etwas, was man zusammen eine große Architektur, ein ein-
ziges Bauwerk nennen könnte. Der Zusammenhang ist so eng, daß er über das
eigentliche Bauen hinaus alles umfaßt.was dieMenschen inLebensgenuß.Le#
bensfreude und Weltanschauung vereinigt, und damit auch die anderen
Künste. Die Architektur durchzieht das ganze Dasein und dieses selbst wird
zur Architektur. Kann die Architektur in ihrer Bedeutung jemals überschätzt
werden? Sie ist Träger, Ausdruck, Prüfstein für jede Zeit. Wir brauchen
keine Kulturgeschichte zu treiben, nicht die Einzelheiten des Lebens, der
politischen und religiösen Lehren der verschiedenen Epochen zu kennen,
um an den steinernen Zeugen das klar zu sehen, was die Menschheit erfüllte.
Die Architektur bedeutet gleichsam ein zweites Leben selbst, indem sie die
Generationen verbindet und als treuester Spiegel das verkündigt, was längst
dahingegangene Propheten gelehrt und Geschlechter geglaubt haben. Es
erscheint das Wort Bau*»Kunst« fast zu gering für etwas, was steingewor«
denes Leben und steingewordene Gedankenwelt ist.

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