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Taut, Bruno
Die Stadtkrone — Jena, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.29957#0060
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sehr weit gezogen waren, damit sich bei Belagerungen die Landbevölkerung
hierhin flüchten kann, das bleibt immer das Gleiche.

Wie mußte es sich nun plötzlich umwandeln, als sich der wirtschaftliche
Aufschwung mit dem Anwachsen des Verkehrs durch die Eisenbahn in
rauschhafterWeise vollzog! Mietskasernen, Fabriken,Geschäftshäuser kleb«
ten sich daran und drohten den alten Kern zu ersticken, der dennoch immer,
trotz des riesenhaftesten Maßstabes der Ausdehnung, der wahre Kern ge-
blieben ist. Eine Unklarheit, ein Durcheinander in den Begriffen der Stadt*
planung mußte entstehen, da ein Zusammenfassen des Alten und Neuen
nicht mehr möglich war. Schließlich aber, nach allzu langer Zeit, erkannte
man die Haltlosigkeit des chaotischen Zustandes. Doch unmöglich, in ab*
sehbarer Zeit einen solchen Augiasstall von Kulturlosigkeit zu säubern!
Die Verwahrlosung aller grundlegenden Begriffe über das Bauen hatte eine
allzu große Macht erhalten. »Das Paradies, die Heimat der Kunst« ver-
schwand und es war »die Hölle, die Heimat der Machtsucht« (Scheerbart)
gekommen. Ihre Erscheinungsformen standen freilich in schönster Harmonie
zu ihrem Wesen, nach den Gesetzen der Natur, welche immer die Einheit
von Inhalt und Form herbeiführt. Die wildesten Mietskasernenviertel, ja
jedes einzelne Haus steht danach immer, wie häßlich es auch’sein mag, in
Harmonie zu dem Leben, das sich in ihm abspielt. Und käme nun ein Gott
und stellte plötzlich das herrlichste Viertel hin, so würde sich nach und nach
auch das Leben in solchen neuen Häusern nach ihnen richten. Aber es ge*
hörte wirklich ein Gott dazu. Die wenigen Menschen, die die Trostlosigkeit
und Häßlichkeit dieses materialistischen Daseins empfanden, konnten nur
langsam schürfen und, von einzelnen Teilgesichtspunkten ausgehend, nach
einer Neuordnung der Dinge suchen.

DIE NEUE STADT

Zunächst versenkte man sich in romantischer Liebe in die Schönheit der
alten Stadtbilder und suchte durch Studium der einzelnen Straßen* und
Platzformen eine ästhetische Neuorientierung (Camillo Sitte). Dazu kamen
Untersuchungen über die neuen Grundlagen der Städtebildung nach der
sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Seite hin, Untersuchungen,
welche die Organisierung der Stadtviertel und Straßenzüge, sowie die Her*
vorkehrung alles dessen zum Ziele hatten, worauf sich erst die neue Stadt
aufbauen kann (Theodor Goecke), und es bildete sich eine neue Lehre, der

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