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Ich möchte den Weg aufzeigen, den die Kunst seit der Zeit der Gotik, in
der sie zum letzten Male in Europa blühte, abwärts gegangen ist, und
sodann will ich versuchen, die Kräfte an das Licht zu stellen, die, nachdem
der äußerste Tiefstand durchlitten ist, uns als Prophezeiung eines neuen
Schaffens gelten. Ich fuße bei meiner Darstellung auf der Wahrheit, daß die
Baukunst der Träger aller bildenden Künste ist. Krankt der Stamm, so können
die Blätter nicht in Gesundheit wachsen, und wenn die Blätter des Baumes
sterben, so muß der Stamm Schaden gelitten haben. Der Vorgang aber, daß
ein kranker Baum zu einer neuen Gesundung auflebt, kann nur der sein,
daß die Krankheit zunächst in immer fortschreitender Lähmung vom Stamme
aus Äste, Zweige, Rippen und Blätter, schließlich bis in ihre letzten Spitzen
heranholt; daß aber dann, wenn es zur Besserung kommt, das neue Leben
den Baum unten, an der Wurzel des Stammes ergreift. Also keine schritt*
weise, an einer eindeutigen Skala abzulesende Entwicklung, die unmerklich
ihr Vorzeichen ändert, sondern ein neuer Anfang; keine physikalisch zu er-
klärende Natürlichkeit, sondern ein biologisches Phänomen — ein Wunder.
Will ich aufkurzem Raum diesen bioIogischenVorgang anschaulich machen,
so fasse ich die am weitesten vorgeschrittene Zersetzung an den Ietzten
Blättern und zeige, abbrechend, dann die Kräfte, die unten am Stamm das
Neue heranführen. Das bedeutet für unsere Aufgabe, daß ich zunächst von
den Auflösungserscheinungen des Bildes spreche, weil die Malerei die am
weitesten vorausgestreckte Entfaltung der bildenden Kunst ist. Und ob-
gleich man sonst erwarten möchte, daß ich von ihr aus nun rückwärts den
Weg zum Stamm in umgekehrter Richtung nehme, bin ich nach dem Voraus*
geschickten berechtigt, sogar gezwungen, scheinbar ohne Vermittlung zur
Wurzel der Kunst, zur Baukunst, überzugehen. Also ein Sprung. Ich glaube
aber überzeugt zu haben, daß dieser Sprung keine Willkür, sondern sach*
liches Erfordernis ist.

Noch eines wird aus dem Gesagten zu folgern sein: daß nämlich meine
Darstellung nicht an die historische Perspektive gebunden ist. Dort, wo ich
mich vom Auflösungsprozeß der Blätter abwende und zu dem neuen Leben
des Stammes hin, verlasse ich notwendig die historische Abfolge. Die Zeit
schafft keine Kunstwerke. Die Betrachtung der Kunst mit dem Zeitbegriffe
in Verbindung zu bringen, ist also völlige Willkür. Indien ist nach dem
modernen Impressionismus keine tote Vergangenheit, sondern mit mehr
Recht unsere Zukunft.

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