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as wir verfolgt haben, ist der Niedergang nicht lediglich der Malerei,

W sondernallerKunstseit dergotischen BIüte.Diehistorische Feststellung
von großen Leistungen einzelner, meist tragischer Schöpferkräfte in diesen
Zeitabschnitten — Raffael, Grünewald, Breughel, Daumier, van Gogh —
ändert nichts an dem Verlaufe. Der Niedergang ist durch sie nicht abzu*
ändern. Und er ist so völlig, so alles auflösend, daß die Frage nach einem
neuen Beginn sich vor dieser absoluten Zerstörung kaum hervorwagt.

Und doch steht ein neuer Magnet schon über uns und übt seine Kraft
geheimnisvoller Anziehung aus. Wohin? Zu einer neuen großen schöpfe*
rischen Baukunst. Freilich, die Dinge bleiben hier in der Sphäre des Ahnungs*
vollen, und so genau wir der Kurve folgen konnten, die abwärts zum Nulb
punkt ging, so traumhaft in vielem bleibt die stolze, lockend^schimmernde
Kurve hinauf. Es ist unmöglich, hier Schritt für Schritt den Weg der Wahr*
scheinlichkeit zu bereiten. Das hieße anspringen gegen einen fernen Berg, um
stets ermattet zurückzufallen. Aber wir haben ein Versprechen: die Dich*
tung Paul Scheerbarts, und wir haben die Gewißheit einer fernen Heimat.

In ihr stehen im Sonnenlichte Tempel, deren absolutes Sein uns den Atem
raubt. Es gibt keine Gebilde auf Erden, das ist nicht zuviel gesagt, deren
Abstand von uns gleich riesenhaft wäre, wie die rätselhafte Ferne indischer
Tempel. Ihr Bild wirkt dämonisch, und es beunruhigt, seitdem wir es ge*
sehen haben, unser Gewissen. Die Schönheit ist vor uns aufgerichtet und
erhebt in göttlicher Ruhe, aber unerbittlich ihre ideale Forderung an uns.
Nur wenige hören sie; aber diejenigen, die sie getroffen hat, haben keine
Wahl mehr. Ungeheures an Verzicht, an Überwindung, an Reinheit und
Einfachheit verlangt das Vorbild von ihnen. Es verlangt ein ursprüngliches,
elementar*kristallenes Menschentum; ein Menschentum, das sich vor keinem
Begriffe beugt, keine Konvention über sich ergehen läßt, keinen Zwang von
außen unbesehen hinnimmt, nur weil er von einer Macht ausgeübt wird;
ein Menschentum, das alle Ableitungen und Brechungen unserer Kultur
enthüllend durchstrahlt, das den brennenden Trieb zur Nacktheit hat.

Dieses Ideal verlangt eine Lostrennung vom Europa unserer Zeit, wie die
Umwelt sie in ihrer Konsequenz nur lächerlich und verstiegen nennen kann;
verlangt eine so simple und doch so schwere Umwertung aller Werte, daß
sie der Zeitgenosse nicht anders als töricht, unlogisch und unhistorisch bes
zeichnen kann. Aber so vollkommen fast jedes Teil in sein Gegenteil ver*
wandelnd diese geistige Erneuerung auch ist, und so mannigfaltige, kompli*
zierte und nützliche Errungenschaften der europäischen Zivilisation, Kultur

9 Taut, Die Stadtkrone

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