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und Entwicklung sie auch, scheinbar für ein lächerliches Nichts, preisgibt,
der Betroffene wird sich keiner Forderung entziehen. Sein Auge ist in Dank*
barkeit auf die Schönheit der indischen Tempel gerichtet, und er weiß, daß
diese höchste Schönheit der Erde ein Kompaß ist, der nicht in die Irre weisen
kann. Denn in der höchsten Schönheit offenbart sich mit Notwendigkeit
der höchste Sinn. Wo aber bleibt dem, der in den Anblick eines indischen
Tempelbaues versunken ist — selbst wenn er auf unvollkommene Abbib
dung der fernen Wunder angewiesen bleibt — wo bleibt dem jenes Kapitel
europäischer Malkunst, das wir nur aus Gründen der Darstellung zuvor so
wichtig genommen haben. Wo bleibt es? Es erscheint uns nun fast lächer*
lich. Mit solchen Werken gibt sich das stolze Europa ab? Mit dem Lächeln
eines jungen Mädchens in das Publikum hinein, weil ein begehrlicher Kava*
lier ihm ein Glas Wein aufnötigt? Mit einem Rahmen ohne Bild? Wir
müssen bis zum Sano di Pietro, bis zum Kathedralfenster hinaufgehen, um
zu Dingen zu gelangen, die mit dem Anblick einer indischen Architektur
überhaupt nur in einem Atem könnten genannt werden. Aber wir sahen ja,
wie logisch, wie konsequent, wie stark eingenommen von seiner Leistung
Europa zum Heutigen kam. Denn Europa ist nun einmal ein malendes
Europa. Es gibt auch Architekten in ihm. Aber dieTatsache, daß diese sich
die nämliche Bezeichnung zulegen, wie die einstigen Schöpfer herrlicher
Werke, soll uns durchaus nicht verleiten, sie als Künstler anzunehmen.
Europa ist ein malendes Europa. Die meisten seiner heute am meisten an-
erkannten »Architekten« kamen von der Malerei. Sie waren aber zur Malerei
nicht einmal begabt genug. Es reichte nur zur modernen Baukunst. Man
kann daraus entnehmen, wie schön diese sein muß.

Es gibt nur eine bildende Kunst: Bauen. Malen und Meißeln gehören zu
ihr. Nicht als Unfreie, nicht als Diener. Sondern die sich entfaltende Bau*
kunst trägt Malen und Meißeln. Es ist ganz überflüssig, eine Theorie über
die Stellung der bildenden Künste untereinander aufzustellen. Es gibt nur
eine bildende Kunst: Bauen. Außerhalb des Bauens gibt es Malerei und
Plastik nur in depravierter Form. In der Gotik hatte Europa zum letzten
Male eine bildende Kunst.

Aber ist Indien nicht noch mehr als die Gotik? Zu keiner Zeit istEuropa
so nahe gekommen dem Morgenlande wie zur Gotik. Es ist auch wahr: in
einem ist sie unübertrefflich schön — die süße strömende Innigkeit der Glas*
fenster hat sie allein. Und auf diese wollen wir gewiß am allerwenigsten ver?
zichten. Aber als Ganzes gesehen thront Indien als reinste Welt des Orients

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