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Thausing, Moritz
Dürer: Geschichte seines Lebens und seiner Kunst — Leipzig, 1876

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https://doi.org/10.11588/diglit.4925#0264
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Epoche der Blütliezeit. 243

Im Ganzen aber gefchah wohl die Umwandlung und Vertiefung feines
Wefens von innen heraus unter jenen. Seelenftürmen, welche prophe-
tifche Naturen zuweilen durchzumachen haben, bevor fie zur Samm-
lung und Klärung aller ihrer Kräfte durchdringen; und wie dies wohl
auch fonft vorkommt, war diefe pfychifche Evolution bei Dürer von
einer körperlichen Erkrankung begleitet.

Die Art, wie uns Dürer, deffen zarter Körper nachmals von vielen
Leiden heimgefucht war, von diefer feiner erften Krankheit berichtet,
giebt uns auch einen Schlüffel zu der Epoche feiner Blütliezeit. Im Bri-
tifchen Mufeum befindet fich nämlich eine Kohlezeichnung: der Kopf
des todten Heilandes mit der Dornenkrone, mit geöffnetem Flunde
und gefchloffenen Augen, ftark verkürzt von unten gefehen, und von
entletzlichem Schmerzensausdrucke. Wohlerhalten ift das Monogramm

mit der Jahreszahl 1503, darunter fehr verwifcht die Infchrift: »D.....

angefleht hab ich . . . gemacht in meiner kranckheit«. Aus der eigenen
Schmerzempfindung heraus fucht Dürer hier nach dem Ausdrucke des
leidenden Chriftus; es ift ein entfehiedener Schritt zur bewegten
Seelenmalerei, zur Dramatik der Gefichtszüge; ein offenes Bekenntnifs
zu jenem Realismus, der das Höchfte, das Göttliche doch nur in der
ganzen, wahren Menfchlichkeit begreift. Nach allen Richtungen holt
nun Dürer weit aus. Von der geiftigen Entwickelungskrankheit feines
32- Jahres erhebt er fich mit Riefenkräften, und es folgt das Jahrzehent
einer Thätigkeit, deren Fülle und Mannigfaltigkeit ftets mehr über-
rafcht, je weiter man fie verfolgt und zu ergründen fucht.

Bisher hatte fich Dürer dabei genügt, das menfehliche Antlitz in
feinen beftimmten ruhenden Formen wiederzugeben mit derfelben Ob-
jeetivität, mit der er Pflanze und Thier, Landfchaften und andere
Gegenftände, fozufagen, abzufpiegeln vermochte. Die Porträte aus
feiner früheren Zeit zeigen noch die ftarre Ruhe des Momentes, das
ängftliche Verhalten jeglichen Affectes und jene nach aufsen gerichtete
Spannung der Gefichtszüge, wie fie fich dem Sitzenden nothwendig
aufprägt. Mehr oder minder klebt diefe Zufälligkeit allen deutfehen
Bildniffen des XV. Jahrhunderts an und trägt wefentlich zur weltent-
rückten Naivetät ihres Ausdruckes bei. Aus dem Jahre 1503 aber
begegnen wir zuerft Porträtftudien Dürers, die eine ganz neue Art der
Auffaffung zur Schau tragen. Ein fchöpferifcher Hauch hat der Natur-
wahrheit zugleich eine tiefere Befeelung eingeflöfst; die Haare zittern,
die Augen blinken und zwinken, die Lippen fchwellen und zucken in
einer ganz unbefchreiblichen Bewegung. Neben jenem Chriftuskopfe
befitzt das Britifche Mufeum noch den eines Mannes im Turban mit
gähnendem Munde, mit Kohle gezeichnet; Alfred von Franck in Graz

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