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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0157
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Durchdringung des Antiken und des Christlichen.

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ist nur ein scheinbarer. Ein zur Meisterschaft gelangender Jüngling,
der eine exorbitante Kraft eigener Anschauung besaß, zugleich
aber die unvergleichliche Stilgröße und Schönheit der Antike er-
kannte, mußte in den Werken, deren Vorwurf er einer längst
untergegangenen Mythologie entnahm, zu einer weitestgehenden
Betonung seiner Sonderart und des seiner Kulturperiode Eigenen ge-
langen, denn er war kein Nachahmer, sondern ein Schöpfer; wo er
hingegen den seiner Zeit und seiner Anschauung eigenthümlichen
und vertrauten christlichen Stoff zu gestalten hatte, fühlte er sich
bewogen, den von ihm wahrgenommenen Stilunvollkommenheiten
durch Verwerthung antiker Formprinzipien abzuhelfen. Es sind
nur die zwei Seiten eines und desselben künstlerischen Strebens:
dort die Befreiung aus strenger Gebundenheit, hier die Beschrän-
kung der Willkür naturalistisch individualisirenden Ausdruckes.
Und hierbei enthüllt sich nun in unzweideutiger Weise die That-
sache, daß jene Umwandlung des antiken Stoffes in modernem Geiste
eine völlige Vernichtung der antiken Vorstellungen bedeutete, weil
Form und Gehalt sich nicht deckten, daß also eine Neubelebung
des Alten in hohem künstlerischen Sinn nicht möglich war, sondern
mit ihm nur ein formalistisches und daher nichts sagendes Spiel
getrieben werden konnte.
Nicht minder ersichtlich aber ist es, daß die in den beiden
christlichen Darstellungen eingeschlagene Stilrichtung nur eine
Durchgangsphase zur Befreiung seines eigensten Wesens sein konnte.
Nichts bezeichnender für die in ihnen noch deutlich wahrnehmbare
Gebundenheit, als daß man sich längere Zeit fragen konnte, ob die
Madonna von Brügge von Buonarrotis Hand sei — und wäre die
Pieta nicht von Alters her beglaubigt und berühmt gewesen, gewiß
hätte auch sie solchen Zweifeln nicht entgehen können. Bedenkt
man nun aber, daß diese beiden Schöpfungen, wie aus jedem un-
befangenen Urtheil zu hören ist, als die vielleicht formenschönsten
unter seinen Werken betrachtet werden, daß der Künstler sie
hervorbrachte, bevor er ganz ungezwungen sich selbst gab, so hat
man ihnen die Lehre zu entnehmen, daß jene Gesetzmäßigkeit,
welche wir Schönheit nennen, in der plastischen Kunst nur unter
Beschwörung des antiken Geistes, nicht aus den Kräften der
modernen Seele zu gewinnen war, und daß, sobald die Antike be-
schworen wurde, diese Seele sich nicht in voller Freiheit äußern
konnte. Aber freilich sind, als höchste Beispiele für die Macht des
 
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