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Thode, Henry; Thode, Henry [Hrsg.]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0160
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Charakteristik der Lehrjahre.

eine Figur hält es mit beiden Händen vor der Brust, die andere
trägt es mit der Linken und macht mit der geschlossenen Rechten
eine Geste, die, von etwas unbestimmter Art, wohl als Ausdruck
intensiver Denkthätigkeit, vor dem Eintritt des Sichmittheilens an
Andere, gedeutet werden muß.
Einiges, wenn auch geringes Interesse, konnte demzufolge nur
der Bildung der Kopftypen sich zuwenden. Indem ihnen eine stärkere
Belebung und Charakteristik gegeben werden soll, aber doch an
dem früheren Formenideal festgehalten wird, kommt es zu einer
Übertreibung der Einzelformen, die, wie gesagt, als Manier wirkt.
Das Geschwollene der Augenlider, die starke Verbreiterung des
mittleren Theiles des Nasenrückens, das Vorquellen der Lippen, die
kugelartige Absonderung des Kinnes verleihen den Zügen den
Charakter einer gewissen Gedunsenheit und dem Ausdruck etwas
Mürrisches. Die Differenzirung der einzelnen Theile, die im Bacchus
so lebens- und verheißungsvoll erscheint, macht sich hier in trockener,
unlebendiger Weise geltend. Kurz, es handelt sich, was bei dem
Mangel an innerer Antheilnahme des Künstlers begreiflich, um ein
Nachlassen der Spannkraft.
Dies ist von kürzester Dauer gewesen. Schon hat Michelangelo
in dem Londoner Eros die neue Bahn eingeschlagen, die ihn aus
dem Bannkreis der Antike hinaus in das Bereich einer selbstherrlichen
Bethätigung seiner Kunst führt. Die Lehrjahre haben ihren Abschluß
erreicht. Ist dies allgemein die Zeit, die bei den stark Begabten einen
wundervollen Reichthum von Bestrebungen zeigt und „aus großen
Trieben, die im Busen ringen“ den Geist zu höchsten Idealen be-
feuert, so verkündet sich doch nur bei den allerstärksten, wie
hier, vom ersten nachbildenden Versuche an, der künstlerische
Wille mit solcher Gewalt, daß jede Schöpfung, indem sie mit der
Tradition bricht, die Offenbarung neuer Möglichkeiten in der Kunst
bedeutet und eine jede ihren besonderen ausgeprägten Charakter
besitzt. In solchen Fällen ist von einer gleichartigen Entwicklung
nicht zu sprechen — und Wer vermöchte angesichts der großen
Mannigfaltigkeit der Formbildungen so kühn sein, das Ineinander-
wirken von Eindrücken und Kräften bestimmen zu wollen? Wohl
aber ist es möglich, Hauptlinien in dem verschlungenen Gewebe zu
verfolgen und sie in der Betrachtung zu kennzeichnen. In dem
verschiedenartigen Verhältniss, in welches zu der dominirenden
Macht des antiken Ideales und antiker Vorstellungen das mit
 
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