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Die neue antikisch christliche Mythologie.
des Gegenständlichen, sondern auch die Formenbildung bestimmen
mußte. Noch einmal will es bezüglich der letzteren wiederholt
sein: da die christliche Idee der Herrschaft der Seele über den
Leib im plastischen stilvollen Bildwerk nicht zu bringen war, konnte
in diesem das Göttliche einzig durch Steigerung der leiblichen
Erscheinung zu einem Übermenschlichen veranschaulicht werden.
Die Darzustellenden waren nun aber nicht Götter, sondern irdische
Vertreter und Verkündiger des einen unsichtbaren Gottes, ein
Mittlergeschlecht zwischen Diesem und der Menschheit. Der zu
schaffende Mythus war demnach ein neuer Mythus von Halbgöttern
— „semidei“, wie man den Übermenschen in der Literatursprache
des XVI. Jahrhunderts nannte, ■—■ von Heroen, deren Charakteristik
die Verdeutlichung ungemeiner Kraft in höchst gesteigerten Lebens-
und Willensäußerungen verlangte. An Stelle des menschlich Nahen
und leidensvoll Rührenden trat das unnahbar Geheimnissvolle und
unwiderstehlich Willensgewaltige. Nur ein Bildhauer, in dem der
Geist seiner Kunst über alle anderen Rücksichten siegte und der
von solchen Halbgöttern schaffend sagen konnte: „Ein Geschlecht,
das mir gleich sei,“ war im Stande, mit unerschrockener Wahr-
haftigkeit die große Entscheidung herbeizuführen.
Die Umdichtung der christlichen Weltanschauung zu einem
Heroenmythus beschäftigt Michelangelo von dem Augenblicke an,
da er seine Selbständigkeit errungen. Nun darf er hoffen, es mit
der Antike aufnehmen zu können.
Den ersten Schritt auf diesem Wege bezeichnet, wie es sich
von selbst ergeben mußte, die Bemühung, dem eigentlichen christ-
lichen Stoffe den heroischen Charakter aufzuprägen: die Darstellung
der Madonna beschäftigt ihn intensiv in der florentinischen Zeit
von 1500 bis 1505, wenn auch schon über diese Schöpfungen das
Ideal des jungen Heros, das in David dem Alten Testament ent-
nommen wird, hinausragt.
Die Erkenntniss aber, daß der spezifisch christliche Stoff einer
solchen Heroisirung widerstrebte, da seinem Gehalt und Geist durch
überragende Größe und Macht leiblicher Erscheinung nicht ent-
sprochen werden kann ■— eine Erkenntniss, die sich gelegentlich
der Aufträge für die Gestaltung der Heiligen am Piccolominialtar
und der Apostel für den Dom erhellen mußte, — konnte nicht aus-
bleiben. Als der Künstler den Auftrag auf das Juliusdenkmal über-
nahm , eröffnet sich seinem unbefriedigten Geiste ein Ausweg: die
Die neue antikisch christliche Mythologie.
des Gegenständlichen, sondern auch die Formenbildung bestimmen
mußte. Noch einmal will es bezüglich der letzteren wiederholt
sein: da die christliche Idee der Herrschaft der Seele über den
Leib im plastischen stilvollen Bildwerk nicht zu bringen war, konnte
in diesem das Göttliche einzig durch Steigerung der leiblichen
Erscheinung zu einem Übermenschlichen veranschaulicht werden.
Die Darzustellenden waren nun aber nicht Götter, sondern irdische
Vertreter und Verkündiger des einen unsichtbaren Gottes, ein
Mittlergeschlecht zwischen Diesem und der Menschheit. Der zu
schaffende Mythus war demnach ein neuer Mythus von Halbgöttern
— „semidei“, wie man den Übermenschen in der Literatursprache
des XVI. Jahrhunderts nannte, ■—■ von Heroen, deren Charakteristik
die Verdeutlichung ungemeiner Kraft in höchst gesteigerten Lebens-
und Willensäußerungen verlangte. An Stelle des menschlich Nahen
und leidensvoll Rührenden trat das unnahbar Geheimnissvolle und
unwiderstehlich Willensgewaltige. Nur ein Bildhauer, in dem der
Geist seiner Kunst über alle anderen Rücksichten siegte und der
von solchen Halbgöttern schaffend sagen konnte: „Ein Geschlecht,
das mir gleich sei,“ war im Stande, mit unerschrockener Wahr-
haftigkeit die große Entscheidung herbeizuführen.
Die Umdichtung der christlichen Weltanschauung zu einem
Heroenmythus beschäftigt Michelangelo von dem Augenblicke an,
da er seine Selbständigkeit errungen. Nun darf er hoffen, es mit
der Antike aufnehmen zu können.
Den ersten Schritt auf diesem Wege bezeichnet, wie es sich
von selbst ergeben mußte, die Bemühung, dem eigentlichen christ-
lichen Stoffe den heroischen Charakter aufzuprägen: die Darstellung
der Madonna beschäftigt ihn intensiv in der florentinischen Zeit
von 1500 bis 1505, wenn auch schon über diese Schöpfungen das
Ideal des jungen Heros, das in David dem Alten Testament ent-
nommen wird, hinausragt.
Die Erkenntniss aber, daß der spezifisch christliche Stoff einer
solchen Heroisirung widerstrebte, da seinem Gehalt und Geist durch
überragende Größe und Macht leiblicher Erscheinung nicht ent-
sprochen werden kann ■— eine Erkenntniss, die sich gelegentlich
der Aufträge für die Gestaltung der Heiligen am Piccolominialtar
und der Apostel für den Dom erhellen mußte, — konnte nicht aus-
bleiben. Als der Künstler den Auftrag auf das Juliusdenkmal über-
nahm , eröffnet sich seinem unbefriedigten Geiste ein Ausweg: die